E.M. Remarque
schüttete sie in das knochige
Gesicht. Sie wollte nur eins: diese harte, unerträgliche Stimme zum Schweigen
bringen. Die Blumen waren schon welk und hingen im Haar und auf den Schultern
der Schwester, als sei sie einem Tümpel entstiegen.
Die Frau wischte
sich das Wasser aus den Augen. »Das werden Sie büßen!« zischte sie.
»Ich weiß«,
erwiderte Lillian. »Schicken Sie mir die Rechnung für den Coiffeur, für das
Kleid sicherlich auch, wahrscheinlich auch für Ihre Schuhe, Ihr Unterzeug, Ihr
ferneres Leben und Ihre erschreckte, gusseiserne Seele! Und nun gehen Sie
endlich!«
Die Schwester
entschwand. Lillian blickte auf die Glasschale, die sie noch in der Hand hielt.
Sie hatte nicht gewußt, daß sie zu solchen Gewaltakten fähig sei. Gott sei
Dank, daß ich die Schale nicht mitgeworfen habe, dachte sie und begann
plötzlich zu lachen und konnte nicht aufhören, und dann kamen die Tränen, und
mit den Tränen kam endlich die Erlösung von der Starre.
Der Portier hielt
sie in der Halle an. »Eine peinliche Sache, Madame.«
»Was denn noch?«
»Sie haben mich
beauftragt, einen Sarg und eine Grabstelle auf dem Friedhof zu bestellen. Die
Schwester von Herrn Clerfayt hat sofort bei ihrem Eintreffen auf Kosten der
Autofirma ebenfalls einen Sarg bestellt und liefern lassen. Jetzt ist der
Ihrige übrig.«
»Können Sie ihn
nicht zurückgeben?«
»Der Vertreter der
Firma in Nizza erklärt, der Sarg sei eine Spezialbestellung gewesen. Er könnte
ihn zurücknehmen, aus Gefälligkeit, aber nicht zum selben Preis.«
Lillian blickte ihn
hilflos an. Ein groteskes Bild stand plötzlich vor ihr – daß sie mit einem
leeren Sarg in irgendein Sanatorium im Gebirge zurückfahren würde, während die
Schwester Clerfayts die zerstückelten Reste in einem zweiten Sarg in ein
Familienbegräbnis entführte.
»Ich habe der Dame
vorgeschlagen, Ihren Sarg für Herrn Clerfayt zu nehmen«, sagte der Portier.
»Sie wollte es nicht. Die Dame ist sehr strikt. Sie läßt auch ihre Hotelkosten
der Autofirma in Rechnung stellen. Volle Pension natürlich, und gestern abend
zwei Flaschen Château Lafite 1929. Der beste Wein, den wir haben. Der Vertreter
der Sargfirma würde den Sarg zurücknehmen für den halben Preis.«
»Gut«, erwiderte
Lillian. »Und machen Sie meine Rechnung fertig. Ich reise heute abend ab.«
»Sehr wohl. Dann
ist da noch die Sache mit der Grabstelle. Sie brauchen sie jetzt nicht mehr,
aber ich habe sie schon für Sie bezahlt. Es ist schwierig, da heute etwas zu
tun. Es ist Samstag. Vor Montag ist niemand im Büro.«
»Sterben samstags
und sonntags hier keine Menschen?«
»Doch. Man kauft
die Gräber dann am Montag.«
»Schreiben Sie den
Preis auf meine Rechnung.«
»Wollen Sie die
Grabstelle denn behalten?« fragte der Portier ungläubig.
»Ich weiß es nicht;
ich will nicht mehr darüber reden. Schreiben Sie auf, was Sie bezahlt haben.
Schreiben Sie alles auf. Aber ich will nichts mehr davon hören! Nichts mehr!
Verstehen Sie das nicht?«
»Sehr wohl,
Madame.«
Lillian ging in ihr Zimmer
zurück. Das Telefon klingelte. Sie nahm es nicht ab. Sie packte den Rest ihrer
Sachen zusammen. In ihrer Tasche fand sie das Fahrscheinheft nach Zürich. Sie
blickte auf das Datum. Der Zug fuhr am selben Abend.
Das Telefon
klingelte wieder. Als es schwieg, packte sie eine panikartige Furcht. Ihr war,
als sei mehr gestorben als Clerfayt – als sei alles gestorben, was sie
gekannt habe. Boris auch, dachte sie. Wer wußte, was mit ihm geschehen war?
Vielleicht war auch er längst tot, und niemand hatte es ihr sagen können, weil
niemand ihre Adresse gewußt hatte oder es ihr sagen wollte.
Sie griff nach dem
Telefon, aber sie ließ die Hand wieder sinken. Sie konnte ihn nicht anrufen.
Nicht jetzt. Er würde sie nicht
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