E.M. Remarque
einen Blutsturz haben?« fragte sie.
»Die Brust war
gegen das Steuerrad geklemmt«, sagte der Monteur.
Lillian schüttelte
langsam den Kopf. »Nein«, sagte sie. »Nein!«
Der Rennleiter ging
zur Tür. »Ich werde sehen, wo der Arzt ist.«
Lillian hörte, wie
er ein lautes Gespräch mit der Schwester hatte. Es verhallte, und das heiße
Schweigen war wieder da, in dem die beiden Monteure laut atmeten und die
Fliegen summten.
Der Rennleiter kam
zurück. Er blieb in der Tür stehen. Seine Augen schienen unnatürlich weiß in
dem verbrannten Gesicht. Er bewegte die Lippen ein paar Mal, bevor er sprach.
»Clerfayt ist tot«, sagte er dann.
Die Monteure
starrten ihn an. »Haben Sie ihn operiert?« fragte der jüngere. »Sicher haben
sie ihn falsch operiert.«
»Sie haben ihn
nicht operiert. Er ist vorher gestorben.«
Alle drei sahen
Lillian an. Sie bewegte sich nicht. »Wo ist er?« fragte sie schließlich.
»Sie machen ihn
zurecht.«
Sie sagte mit
großer Mühe: »Haben Sie ihn gesehen?«
Der Rennleiter
nickte.
»Wo ist er?«
»Es ist besser,
wenn Sie ihn jetzt nicht sehen«, erwiderte der Mann. »Morgen können Sie ihn
sehen.«
»Wer sagt das?«
fragte Lillian mit einer Stimme, in der jedes Gefühl fehlte. »Wer sagt das?«
wiederholte sie.
»Der Arzt. Sie
würden ihn nicht erkennen. Es ist besser, Sie kommen morgen. Wir können Sie ins
Hotel fahren.«
Lillian blieb
stehen. »Warum würde ich ihn nicht erkennen?«
Der Rennleiter
schwieg eine Weile. »Das Gesicht«, erklärte er dann. »Es ist hart
aufgeschlagen. Das Steuerrad hat ihm den Brustkorb eingedrückt. Er hat nichts
gemerkt, meint der Arzt. Es ging so schnell. Er war sofort bewusstlos. Er ist
nicht mehr aufgewacht. Meinen Sie denn«, sagte er lauter, »es ginge uns nicht
auch an die Knochen? Wir kannten ihn länger als Sie!«
»Ja«, erwiderte
Lillian. »Sie kannten ihn länger als ich.«
»Ich meine das
nicht so. Ich meine, daß es immer so ist, wenn einer stirbt: Plötzlich ist er
weg. Er spricht nicht mehr. Er war soeben noch da, und dann ist er nicht mehr
da. Wer kann das begreifen? Ich meine: Uns geht es auch so. Man steht da und
begreift es nicht. Verstehen Sie?«
»Ja, ich verstehe
es.«
»Dann kommen Sie
mit uns«, sagte der Rennleiter. »Wir bringen Sie ins Hotel. Dies ist genug für
heute. Morgen können Sie ihn sehen.«
»Und was soll ich
im Hotel?« fragte Lillian.
Der Mann hob die
Schultern. »Rufen Sie einen Arzt. Er soll Ihnen eine Spritze machen. Eine
kräftige, daß Sie bis morgen durchschlafen. Kommen Sie! Hier können Sie nichts
mehr tun. Er ist tot. Wir alle können nichts mehr tun. Wenn einer tot ist, ist
es vorbei: Man kann nichts mehr tun.« Er trat einen Schritt näher und legte
eine Hand auf ihren Arm. »Kommen Sie! Ich weiß es. Porca Miseria, es ist nicht
das erste Mal für mich! Aber verdammt noch einmal, es ist immer das erste Mal!«
21
S ie
wachte
auf aus brodelndem Schlaf. Einen Augenblick hatte sie keine Verbindung mit der
Welt, dann stach der Schmerz scharf hindurch; sie saß mit einem Ruck aufrecht
im Bett und sah sich um. Wie war sie hierher gekommen? Langsam erinnerte sie
sich – an den tödlichen, späten Nachmittag, das Umherirren in der kleinen
Stadt, den frühen Abend, das Hospital, das fremde, geflickte Gesicht Clerfayts,
den Kopf der etwas schief lag, die Hände, die nicht dazu passten, weil jemand
sie wie zum Gebet ineinander gelegt hatte, den Arzt, der mit ihr gekommen
war – es war alles nicht wahr, es war nicht richtig – nicht Clerfayt
mußte auf dem Hospitalbett liegen, sondern sie, sie allein und nicht er, es war
eine grausige Verkehrung, jemand hatte sich einen fürchterlichen, finsteren
Scherz erlaubt.
Sie stand auf und
zog die Vorhänge auseinander. Die Sonne stürzte herein. Der wolkenlose Himmel,
die Palmen im Licht und die lodernden Blumenbeete im Hotelgarten
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