E.M. Remarque
Orchideen dieser Art gab
es nicht auf Vorrat im Dorf. Sie hatte selbst danach gesucht und sie nicht
gefunden und sie dann aus Zürich kommen lassen. Sie zählte die Blüten. Die Zahl
stimmte. Dann sah sie, daß an der untersten Blüte ein Blatt fehlte, und sie
erinnerte sich, das bemerkt zu haben, als das Paket aus Zürich angekommen war.
Es war kein Zweifel mehr möglich – die Blumen, die auf dem Teppich vor ihr
lagen, waren dieselben, die sie auf den Sarg Agnes Somervilles gelegt hatte.
Ich werde
hysterisch, dachte sie. Dies alles muß sich erklären lassen; es sind keine
Geisterblumen, die sich manifestiert haben, jemand muß sich einen scheußlichen
Spaß mit mir gemacht haben, aber warum? Und wie? Wie kamen diese Orchideen
wieder hierher? Und was sollte dieser Handschuh daneben, der wie eine tote,
schwarzgewordene Hand aussah, die drohend durch den Boden griff, als wäre er
das Symbol einer Geistermafia?
Sie ging um den
Zweig herum, als wäre er wirklich eine Schlange. Die Blüten schienen keine
Blüten mehr zu sein; die Berührung mit dem Tode hatte sie unheimlich gemacht,
und das Weiß war weißer als alles, was sie je gesehen hatte. Rasch öffnete sie
die Tür zu ihrem Balkon, faßte vorsichtig das Seidenpapier und mit ihm den
Zweig und warf beides über den Balkon nach draußen. Den Karton warf sie
hinterher. Sie horchte einen Augenblick in den Nebel. Ferne Stimmen und Geläute
von Schlitten kamen hindurch. Sie ging zurück und sah den Handschuh auf dem
Boden. Sie erkannte ihn jetzt und erinnerte sich, ihn getragen zu haben, als
sie mit Clerfayt in der Palace Bar gewesen war. Clerfayt, dachte sie, was hatte
er damit zu tun? Sie mußte es erfahren! Sofort!
Es dauerte eine
Weile, bevor er zum Telefon kam.
»Haben Sie mir
meinen Handschuh zurückgeschickt?« fragte sie.
»Ja. Sie hatten ihn
in der Bar vergessen.«
»Sind die Blumen
auch von Ihnen? Die Orchideen?«
»Ja. Haben sie
meine Karte nicht bekommen?«
»Ihre Karte?«
»Haben Sie sie
nicht gefunden?«
»Nein!« Lillian
schluckte. »Noch nicht. Woher haben Sie die Blumen?«
»Aus einem
Blumengeschäft«, erwiderte Clerfayt erstaunt. »Warum?«
»Hier im Dorf?«
»Ja, aber warum?
Sind sie gestohlen?«
»Nein. Oder
vielleicht doch. Ich weiß es nicht ...«
Lillian schwieg.
»Soll ich
hinaufkommen?« fragte Clerfayt.
»Ja.«
»Wann?«
»In einer Stunde;
dann ist es hier still.«
»Gut, in einer
Stunde. Am Dienstboteneingang?«
»Ja.«
Lillian legte
aufatmend den Hörer zurück. Gott sei Dank, dachte sie, da war jemand, dem man
nichts zu erklären brauchte. Jemand, dem man gleichgültig war und der sich
nicht um einen sorgte wie Boris.
Clerfayt stand an
der Seitentür. »Können Sie keine Orchideen leiden?« fragte er und zeigte auf
den Schnee.
Die Blumen und der
Karton lagen noch da. »Woher haben Sie sie?« fragte Lillian.
»Aus einem kleinen
Blumengeschäft unten – etwas außerhalb des Dorfes. Warum? Sind sie
verhext?«
»Diese
Blumen – dieselben Blumen«, sagte Lillian mit Mühe, »habe ich gestern auf
den Sarg meiner Freundin gelegt. Ich habe sie noch gesehen, bevor der Sarg
abgeholt wurde. Das Sanatorium behält keine Blumen zurück. Alles ist abgeholt
worden. Ich habe den Hausknecht soeben gefragt. Alles ist zum Krematorium
geschickt worden. Ich weiß nicht, wie ...«
»Zum Krematorium?«
fragte Clerfayt.
»Ja.«
»Guter Gott! Das
Geschäft, in dem ich die Blumen gekauft habe, liegt nicht weit vom Krematorium.
Es ist ein schäbiger Laden, und ich habe mich schon gewundert, woher die Blumen
kamen. Das erklärt es!«
»Was?«
»Irgendein
Angestellter des Krematoriums muß sie, anstatt sie mit zu verbrennen,
weggenommen und an den Laden verkauft haben.«
Sie starrte ihn an.
»Ist so etwas denn
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