E.M. Remarque
habe kein Fieber«, sagte Lillian rasch. »Es ist nur etwas
Aufregung. Schon seit einer Woche habe ich kein Fieber mehr, und vorher hatte
ich es auch nur, wenn ich aufgeregt war. Es ist nicht organisch ...«
Der Dalai Lama
setzte sich neben sie und fühlte nach einem Punkt für die Spritze. »Bleiben Sie
für die nächsten Tage im Zimmer.«
»Ich kann nicht
immer im Bett bleiben. Davon bekomme ich ja gerade das Fieber. Es macht mich
verrückt.«
»Sie brauchen nur
im Zimmer zu bleiben. Heute im Bett, Jod, Schwester; hier.«
Lillian betrachtete den
braunen Jodfleck, während sie sich in ihrem Zimmer umzog. Dann holte sie die
Flasche Wodka unter ihrer Wäsche hervor und goß ein Glas ein, während sie nach
dem Korridor horchte. Die Schwester mußte jeden Augenblick mit ihrem Abendessen
kommen, und sie wollte heute nicht beim Trinken erwischt werden.
Ich bin noch nicht
zu dünn, dachte sie und stellte sich vor den Spiegel. Ich habe ein halbes Pfund
zugenommen. Eine große Leistung. Sie trank sich ironisch zu und versteckte die
Flasche wieder. Von draußen hörte sie jetzt den Wagen mit ihrem Essen. Sie
griff nach einem Kleid.
»Ziehen Sie sich
an?« fragte die Schwester. »Sie dürfen doch nicht hinaus.«
»Ich ziehe mich an,
weil ich mich dann besser fühle.« Die Schwester schüttelte den Kopf. »Warum
legen Sie sich nicht zu Bett? Ich wollte, ich bekäme einmal mein Essen im Bett
serviert.«
»Legen Sie sich in
den Schnee, bis Sie Lungenentzündung haben«, sagte Lillian. »Dann bekommen Sie
es im Bett serviert.«
»Nicht ich. Ich
würde mich höchstens erkälten und einen kleinen Schnupfen bekommen. Hier ist
ein Paket für Sie. Es sieht aus wie Blumen.«
Boris, dachte
Lillian und nahm den weißen Karton.
»Wollen Sie es
nicht aufmachen?« fragte die Schwester neugierig.
»Später.«
Lillian stocherte
eine Weile in ihrem Essen herum, dann ließ sie es wegräumen. Die Schwester
machte inzwischen ihr Bett. »Wollen sie nicht Ihr Radio anstellen?« fragte sie.
»Es ist doch unterhaltend!«
»Wenn Sie es hören
wollen, stellen Sie es an!«
Die Schwester
begann an den Knöpfen zu drehen. Zürich kam mit einem Vortrag über Conrad
Ferdinand Meyer und Lausanne mit Nachrichten. Sie drehte weiter, und auf einmal
war Paris da. Ein Pianist spielte Debussy. Lillian ging zum Fenster und wartete
darauf, daß die Schwester fertig würde und das Zimmer verließe. Sie starrte in
den abendlichen Nebel und hörte die Musik aus Paris, und sie war ihr
unerträglich.
»Kennen Sie Paris?«
fragte die Schwester.
»Ja.«
»Ich nicht. Es muß
wunderbar sein!«
»Es war kalt und
dunkel und trostlos und von den Deutschen okkupiert, als ich da war.«
Die Schwester
lachte. »Das ist doch längst vorbei. Schon ein paar Jahre. Jetzt ist alles
sicher wieder wie vor dem Kriege. Möchten Sie nicht wieder hin?«
»Nein«, erwiderte
Lillian hart. »Wer will schon nach Paris im Winter? Sind Sie fertig?«
»Ja, ja, gleich.
Wozu haben Sie es so eilig? Es ist ja doch nichts weiter zu tun hier.«
Die Schwester ging
endlich. Lillian stellte das Radio ab. Ja, dachte sie, hier war nichts weiter
zu tun. Man konnte nur warten. Warten, worauf? Darauf, daß das Leben immer
wieder nur aus Warten bestand?
Sie öffnete den
weißen Karton mit der blauen Seidenschleife. Boris hat sich damit abgefunden,
hier oben zu bleiben, dachte sie – oder wenigstens das war es, was er
sagte. Aber ich?
Sie schlug das
Seidenpapier auseinander, das die Blumen umhüllte, und ließ den Karton im
gleichen Augenblick fallen, als hätte er eine Schlange enthalten.
Sie starrte auf die
Orchideen am Boden. Sie kannte die Blumen. Zufall, dachte sie, ein ekelhafter
Zufall, es sind andere, nicht dieselben, andere, ähnliche! Aber sie wußte zur
gleichen Zeit, daß solche Zufälle nicht vorkamen, und
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