E.M. Remarque
würden
davonfliegen wie Zugvögel, und das lange, eintönige Jahr würde sich durch
Frühjahr, Sommer und Herbst weiter bis zum nächsten Winter schleppen.
Das Telefon klinkte
hinter ihr. »Dieses Luder!« sagte Charles Ney mißtrauisch. »In ihrem eigenen
Kopf ist das nicht gewachsen! Weshalb hast du mich hierher gerufen?«
»Ich wollte wissen,
was das Krokodil gesagt hat.«
»Du bist sonst
nicht so eilig!« Charles grinste. »Wir werden morgen noch darüber reden. Jetzt
muß ich meinen Abendanzug retten! Die Tölpelin ist fähig, ihn zu kochen! Gute
Nacht. Es war ein großartiger Abend!«
Er schloß die Tür
hinter sich. Lillian hörte seine Pantoffeln eilig über den Korridor schlappen.
Sein Abendanzug, dachte sie, das Symbol seiner Hoffnung auf Gesundheit, auf
Freiheit, auf Nächte in Städten unten, seine Maskotte, so wie es für sie ihre
eigenen beiden Abendkleider waren, die nutzlos hier oben waren, die sie aber
nicht aufgab, als hinge ihr Leben davon ab. Wenn sie sie aufgab, gab sie die
Hoffnung auf. Sie ging wieder zum Fenster und sah auf die Lichter unten. Ein
großartiger Abend! Sie kannte viele solcher trostlosen, großartigen Abende!
Sie zog die
Vorhänge zu. Da war die Panik wieder! Sie suchte nach den versteckten
Schlaftabletten. Einen Augenblick glaubte sie, draußen Clerfayts Motor zu
hören. Sie sah auf die Uhr. Er hätte sie retten können vor der langen Nacht;
aber sie konnte ihn nicht anrufen. Hatte Hollmann nicht gesagt, er habe Besuch?
Von wem? Von irgendeinem gesunden Frauenzimmer aus Paris oder Mailand oder
Monte Carlo! Zum Teufel mit ihm, er fuhr ohnehin in ein paar Tagen ab! Sie
schluckte die Tabletten. Ich sollte mich ergeben, dachte sie, ich sollte tun,
was Boris sagt, ich sollte damit leben, ich sollte nicht dagegen kämpfen, ich
sollte mich ergeben, aber wenn ich mich ergebe, bin ich verloren!
Sie setzte sich an
ihren Tisch und holte Briefpapier hervor. »Geliebter«, schrieb sie. »Du mit dem
undeutlichen Gesicht, Unbekannter, nie Gekommener, immer Erwarteter, fühlst Du
nicht, daß die Zeit ausrinnt –?« und dann hörte sie auf zu schreiben und
stieß die Kassette, in der schon viele nie abgeschickte Briefe lagen, Briefe,
für die sie keine Adresse wußte, vom Tisch und blickte auf das weiße Blatt vor
sich und dachte: Weshalb weine ich? Davon wird es doch auch nicht anders ...
5
D er alte Mann lag so
flach unter seiner Decke, als habe er keinen Körper mehr. Sein Kopf war
abgezehrt, die Augen lagen sehr tief, aber sie hatten ein starkes Blau; die
Adern standen dick unter der Haut, die wie zerknittertes Seidenpapier aussah.
Er lag in einem schmalen Bett in einem schmalen Zimmer. Neben dem Bett stand
auf dem Nachttisch ein Schachbrett.
Er hieß Richter. Er
war achtzig Jahre alt und lebte seit zwanzig Jahren im Sanatorium. Anfangs
hatte er in einem Doppelzimmer im ersten Stock gewohnt; dann in einem
Einzelzimmer im zweiten Stock mit Balkon; anschließend in einem Zimmer ohne
Balkon im dritten Stock – und jetzt, seit er kein Geld mehr hatte, lebte
er in dieser schmalen Kammer. Er war das Renommierstück des Sanatoriums. Der
Dalai Lama wies stets auf ihn, wenn er mutlose Patienten hatte; dafür erwies
sich Richter dankbar. Er starb und starb nicht. Lillian saß an seinem Bett.
»Sehen Sie sich das an!« sagte Richter und zeigte auf das Schachbrett. »Der Mann
spielt wie ein Nachtwächter. Dieser Zug mit dem Springer macht ihn doch in den
nächsten zehn Zügen matt. Was ist nur jetzt mit Regnier los? Früher spielte er
gut. Waren Sie schon hier während des Krieges?«
»Nein«, sagte
Lillian.
»Er ist während des
Krieges gekommen, 1944 glaube ich. Das war eine Erlösung! Vorher – meine
liebe junge Dame – vorher mußte ich ein Jahr lang gegen einen Schachklub
in Zürich
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