E.M. Remarque
wieder bettlägerig geworden, und da beide jetzt kein Telefon mehr
hatten, vermittelten ein paar Patienten für sie die Botendienste. Lillian auch.
Dann war Regnier vor drei Wochen gestorben. Richter war um diese Zeit so
schwach gewesen, daß man auch seinen Tod erwartete, und niemand wollte ihm
sagen, daß Regnier tot sei. Um ihn zu täuschen, war das Krokodil als Partner
eingesprungen; es hatte inzwischen selbst spielen gelernt, war aber natürlich
kein Gegner für Richter. Daher kam es, daß Richter, der immer noch glaubte, es
sei Regnier, sich nicht genug darüber wundern konnte, was für ein Idiot dieser
so gute Spieler plötzlich geworden war.
»Wollen Sie nicht Schach
lernen«, fragte er Lillian, die ihm den letzten Zug des Krokodils überbracht
hatte. »Ich kann es Ihnen rasch beibringen.«
Lillian sah die
Angst in den blauen Augen. Der alte Mann glaubte, daß Regnier bald sterben
würde, da er so schlecht spielte, und er hatte Angst, wieder ohne Partner zu
sein. Er fragte jeden, der ihn besuchte.
»Man kann es bald
lernen. Ich zeige Ihnen alle Tricks. Ich habe gegen Lasker gespielt.«
»Ich habe kein
Talent dafür. Und keine Geduld.«
»Jeder hat Talent!
Und Geduld muß man haben, wenn man nachts nicht schlafen kann. Was soll man
sonst tun? Beten? Das hilft nicht. Ich bin Atheist. Philosophie hilft auch
nicht. Detektivromane nur für kurze Zeit. Ich habe alles probiert, meine Dame.
Nur zwei Dinge helfen. Das eine ist, daß ein anderer bei einem ist; deshalb
habe ich geheiratet. Aber meine Frau ist längst tot ...«
»Und das andere?«
»Schachaufgaben zu
lösen. Es ist so weit entfernt von all dem Menschlichen – dem Zweifel und
der Angst – so abstrakt, daß es beruhigt. Es ist eine Welt ohne Panik und
ohne Tod. Es hilft! Wenigstens für die eine Nacht – und mehr wollen wir ja
nicht, nicht wahr? Nur durchhalten bis zum nächsten Morgen ...«
»Ja. Mehr will man
hier nicht.«
Im Fenster des
hochgelegenen Zimmers sah man nichts als Wolken und einen Schneehang. Die
Wolken waren gelb und golden und unruhig am frühen Nachmittag. »Soll ich es
Ihnen beibringen?« fragte Richter. »Wir können gleich anfangen.«
Die starken Augen
in dem Totenschädel flackerten. Sie hungerten nach Gesellschaft, dachte
Lillian – nicht nach Schachproblemen. Sie hungerten nach jemand, der da
sein konnte, wenn die Tür sich plötzlich öffnete und niemand hereinkam als der
lautlose Wind, unter dem das Blut aus der Kehle stürzte und die Lungen füllte,
bis man in ihm erstickte.
»Wie lange sind Sie
schon hier?« fragte sie.
»Zwanzig Jahre. Ein
Leben, wie?«
»Ja, ein Leben.«
Ein Leben, dachte
sie, aber was für ein Leben! Jeder Tag war wie der andere, in endloser Routine,
Tag um Tag, und am Ende des Jahres fielen die Tage zusammen, als wären sie nur
ein einziger Tag gewesen, so sehr glichen sie sich, und so fielen auch die
Jahre zusammen, als wären sie nur ein einziges Jahr gewesen, so sehr waren auch
sie immer wieder dieselben. Nein, dachte Lillian, nicht so! Ich will nicht so
enden! Nicht so!
»Wollen wir heute
anfangen?« fragte Richter.
Lillian schüttelte
den Kopf. »Es hat keinen Zweck mehr. Ich bleibe nicht mehr lange hier.«
»Sie fahren nach
unten?« krächzte Richter.
»Ja. In ein paar
Tagen.«
Was rede ich da?
dachte sie betroffen. Es ist ja nicht wahr! Aber die Worte hallten ihr im Kopf,
als wären sie nicht wieder zu vergessen. Verwirrt stand sie auf.
»Sind Sie geheilt?«
Die heisere Stimme
klang so ärgerlich, als hätte Lillian einen Vertrauensbruch begangen. »Ich
fahre nicht für lange«, sagte sie hastig. »Nur für kurze Zeit. Ich komme
wieder.«
»Jeder kommt
wieder«, krächzte Richter beruhigt. »Jeder.«
»Soll ich Ihren Zug
für Regnier mitnehmen?«
»Zwecklos.« Richter
warf die Schachfiguren auf dem Brett neben
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