E.M. Remarque
im
Augenblick Streptomycin an ihr aus. Sie vertrug es nicht gut, aber selbst wenn
der Dalai Lama es aufgeben sollte und sie entlassen würde, konnte ihr nichts
ähnliches wie Eva Moser passieren. Sie war als einziger Patient des Sanatoriums
im Ort geboren und konnte leicht überall eine Stellung finden. Sie war eine
vorzügliche Köchin.
»Was soll ich
werden?« jammerte Eva Moser jetzt in voller Panik. »Sekretärin? Wer nimmt mich
schon? Ich kann nur schlecht Schreibmaschine schreiben. Viele Leute haben auch
Angst vor Sekretärinnen, die aus einem Sanatorium kommen.«
»Werden Sie Sekretärin
bei einem Lungenkranken«, krächzte der Graubart.
Lillian betrachtete
Eva, als wäre sie ein prähistorisches Tier, das plötzlich aus einem Bodenspalt
gekrochen war. Sie hatte auch früher schon Patienten gesehen, die entlassen
worden waren und behauptet hatten, lieber bleiben zu wollen – doch das war
nur höfliche Rücksichtnahme auf die Zurückbleibenden gewesen, um das
merkwürdige Gefühl der Desertion, das die Entlassung begleitete, zu mildern.
Aber Eva Moser war ein anderer Fall; sie meinte, was sie sagte. Sie war ehrlich
verzweifelt. Sie hatte sich an das Sanatorium gewöhnt. Sie hatte Angst vor dem
Leben unten.
Dolores Palmer
schob Lillian ein Glas Wodka zu. »Diese Person!« sagte sie und blickte
angeekelt auf Eva. »Keine Manieren! Wie sie sich benimmt! Geradezu obszön,
wie?«
»Ich gehe«,
erklärte Lillian. »Ich kann das nicht aushalten.«
»Geh nicht!« sagte
Charles Ney und beugte sich zu ihr. »Schönes, flackerndes Licht im Ungewissen,
bleibe noch! Die Nacht ist voll Schatten und Platitüden, und wir brauchen dich
und Dolores als Galionsfiguren vor unseren zerfetzten Segeln, um nicht von den
entsetzlichen Plattfüßen Eva Mosers zerstampft zu werden. Sing etwas, Lillian!«
»Auch das noch?
Was? Ein Wiegenlied für Kinder, die nie geboren werden?«
»Eva wird Kinder
haben! Viele – keine Sorge! Nein, sing das Lied von den Wolken, die nicht
wiederkommen und von dem Schnee, der das Herz begräbt. Das Lied von den
Verbannten der Berge. Sing es für uns! Nicht für die Küchenmeduse Eva. Wir
brauchen den dunklen Wein der Selbstverherrlichung heute nacht, glaube es mir.
Hemmungslose Sentimentalität ist noch besser als Tränen.«
»Charles hat
irgendwo eine halbe Flasche Kognak erwischt«, stellte Dolores sachlich fest und
ging auf ihren hohen Beinen zum Grammophon. »Spiel die neuen amerikanischen
Platten, Schirmer!«
»Dieses Monster«,
seufzte Charles Ney hinter ihr her.
»Sie sieht aus wie
alle Poesie der Welt und hat ein Gehirn wie eine Statistik. Ich liebe sie, wie
man den Dschungel liebt, und sie antwortet wie ein Gemüsegarten. Was macht man
da?«
»Man leidet und ist
glücklich.«
Lillian erhob sich.
Im gleichen Augenblick öffnete sich die Tür, und das Krokodil stand im Rahmen.
»Das habe ich mir
doch gedacht! Zigaretten! Alkohol auf dem Zimmer! Eine Orgie! Sogar Sie dabei,
Fräulein Ruesch!« zischte sie zu Streptomycin-Lilly hinüber. »Auf Krücken
hereingeschlichen! Und Herr Schirmer, Sie auch! Sie sollten im Bett sein!«
»Ich sollte längst
tot sein«, erwiderte der Graubart fröhlich. »Theoretisch bin ich es auch.« Er
stellte das Grammophon ab, zog die seidene Unterwäsche aus dem Lautsprecher und
schwenkte sie in der Luft. »Ich lebe von geborgtem Leben! Dafür gelten andere
Gesetze als für das, worin man geboren ist.«
»So? Und was für
welche, wenn ich fragen darf?«
»Keine andern als
die, so viel davon zu haben, wie möglich. Wie man das erzielt, ist jedermanns
eigene Sache.«
»Ich muß Sie
ersuchen, sofort zu Bett zu gehen. Wer hat Sie hierher gefahren?«
»Meine Vernunft.«
Der Graubart
kletterte
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