E.M. Remarque
seinem Bett um. »Er ist so gut wie
matt. Sagen Sie ihm, wir müßten ein neues Spiel anfangen.«
»Ja. Ein neues
Spiel. Ja.«
Die Unruhe verließ sie
nicht. Nachmittags gelang es ihr, eine junge Assistenzschwester im
Operationsraum zu überreden, ihr die letzten Röntgenaufnahmen zu zeigen, die
von ihr gemacht worden waren. Die Schwester glaubte, Lillian verstände nichts
davon, und brachte ihr die Filme.
»Kann ich sie einen
Augenblick hier behalten?« fragte Lillian.
Die Schwester
zögerte. »Es ist gegen die Vorschriften. Es ist schon nicht richtig, daß ich
sie Ihnen überhaupt zeige.«
»Der Professor
zeigt sie mir fast immer selbst und erklärt sie mir. Er hat es dieses Mal
vergessen.« Lillian ging zum Schrank und nahm ein Kleid heraus. »Hier ist das
Kleid, das ich Ihnen neulich versprochen habe. Sie können es jetzt mitnehmen.«
Die Schwester
errötete. »Das gelbe Kleid? Haben Sie das wirklich so gemeint?«
»Warum nicht? Es
paßt mir nicht mehr. Ich bin zu dünn dafür geworden.«
»Sie können es
enger machen lassen.«
Lillian schüttelte
den Kopf. »Nehmen Sie es nur.«
Die Schwester nahm
das Kleid, als wäre es aus Glas und hielt es sich an. »Ich glaube, es paßt
sogar«, flüsterte sie und sah in den Spiegel. Dann legte sie es über eine
Stuhllehne. »Ich lasse es noch ein paar Minuten hier. Die Aufnahmen auch. Dann
hole ich alles ab. Ich muß noch zu Nummer sechsundzwanzig. Sie ist abgereist.«
»Abgereist?«
»Ja. Vor einer
Stunde.«
»Wer ist Nummer
sechsundzwanzig?«
»Die kleine
Südamerikanerin aus Bogotá.«
»Die mit den drei
Verwandten? Manuela?«
»Ja. Es kam rasch;
aber es war zu erwarten.«
»Was reden wir
herum«, sagte Lillian, erbittert durch den vorsichtigen Jargon des Sanatoriums.
»Sie ist nicht abgereist, sie ist tot, gestorben, nicht mehr da!«
»Ja, natürlich«,
erwiderte die Schwester eingeschüchtert und schielte nach dem Kleide, das wie
eine gelbe Quarantäneflagge über dem Stuhl hing. Lillian sah es.
»Gehen Sie nur«,
sagte sie ruhiger. »Sie haben recht; wenn Sie zurückkommen, können Sie gleich
alles zusammen mitnehmen.«
»Gut.«
Lillian zog rasch die
dunklen, glatten Filme aus dem Umschlag und ging damit zum Fenster. Sie konnte
sie nicht wirklich lesen. Der Dalai Lama hatte ihr nur öfter die Schatten und
Verfärbungen gezeigt, auf die es ankam. Seit einigen Monaten hatte er es nicht
mehr getan.
Sie blickte auf das
glänzende Grau und Schwarz, das über ihr Leben entschied. Da waren ihre
Schulterknochen, ihre Wirbelsäule, ihre Rippen, da war ihr Skelett – und
dazwischen das unheimliche, schattenhafte Etwas, das Gesundheit oder Krankheit
hieß. Sie erinnerte sich an die früheren Aufnahmen, an die nebligen grauen
Flecke und versuchte, sie wieder zu finden. Sie glaubte, sie zu sehen, und es
schien ihr, daß sie größer geworden seien. Sie ging vom Fenster weg und
schaltete die Lampe an. Dann nahm sie den Schirm ab, um noch mehr Licht zu
haben, und plötzlich war ihr, als sähe sie sich selbst, tot, nach Jahren im
Grabe, das Fleisch bereits zerfallen zu grauer Erde und nur die Knochen noch fest,
das einzige, was standgehalten hatte. Sie legte die Filme auf den Tisch. Ich
mache wieder Unsinn, dachte sie – aber sie ging trotzdem zum Spiegel und
blickte hinein, sie beobachtete ihr Gesicht, das Gesicht, das ihres war und
nicht ihres, seitenverkehrt im Spiegel und fremd und trotzdem das ihre. Ich
kenne es nicht, nicht wie es wirklich aussieht, dachte sie, ich kenne nicht
das, das die andern sehen, ich kenne nur dieses Spiegelphantom, das vertauscht
ist und rechts hat, wo andere links bei mir sehen, ich kenne nur diese Lüge,
ebenso wie ich nur die andere Lüge kenne, die Farben und die Form, während ich
das wirkliche, das Skelett, das still in mir arbeitet, um an
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