E.M. Remarque
die Oberfläche zu
kommen, nicht kenne. Das da, dachte sie und sah auf den schwarzen, glänzenden
Film, das ist der einzige wirkliche Spiegel. Sie betastete ihre Stirn und ihre
Wange, sie fühlte die Knochen darunter, und es schien ihr, als wären sie näher
zur Haut als früher. Das Fleisch schmilzt bereits, dachte sie, aus den
Augenhöhlen blickt schon der Unbestechliche, Namenlose, oder blickt er mir
unsichtbar über die Schulter, und seine und meine Augen treffen sich im
Spiegel?
»Aber was machen
Sie denn da?« fragte die junge Schwester hinter ihr. Sie war auf lautlosen
Gummisohlen wieder hereingekommen.
»Ich sehe in den
Spiegel. Ich habe in den letzten zwei Monaten drei Pfund verloren.«
»Sie haben doch
kürzlich ein halbes Pfund zugenommen.«
»Das habe ich schon
wieder abgenommen.«
»Sie sind zu
unruhig. Und Sie müssen mehr essen. Ich finde, Sie haben sich gut erholt.«
Lillian dreht sich
rasch um. »Warum behandelt ihr uns immer wie Kinder?« sagte sie, maßlos
irritiert. »Denkt ihr wirklich, wir glauben alles, was ihr uns vorerzählt?
Hier –« sie hielt der Schwester die Röntgenaufnahmen hin – »sehen Sie
das an! Ich kenne genug davon! Sie wissen, daß es nicht besser geworden ist!«
Die Schwester sah
sie erschrocken an. »Sie können Röntgenbilder lesen? Haben Sie es gelernt?«
»Ja, ich habe es
gelernt. Ich hatte Zeit genug dazu.«
Es war nicht wahr.
Aber sie konnte auf einmal nicht mehr zurück. Ihr war, als stände sie auf einem
hohen Seil, die Hände noch an der Brüstung des Gestells, im Augenblick, bevor
sie es loslassen und über die Tiefe gehen wollte. Noch konnte sie alles
vermeiden, wenn sie jetzt schwieg, und sie wollte es eigentlich; aber etwas,
das stärker war als die Furcht, stieß sie vorwärts.
»Es ist kein
Geheimnis«, sagte sie ruhig. »Der Professor selbst hat mir gesagt, daß es nicht
besser geworden ist mit mir. Schlechter! Ich wollte es nur noch einmal selbst
sehen, deshalb habe ich Sie gebeten, mir die Blätter zu zeigen. Ich verstehe
nicht, weshalb so viel Theater daraus vor den Patienten gemacht wird! Es ist
doch viel besser, wenn man klar sieht.«
»Die meisten können
es nicht ertragen.«
»Ich kann es ertragen.
Haben Sie es mir deshalb nicht gesagt?«
Lillian hatte das
Gefühl, als spüre sie die lautlose Stille der Erwartung in dem endlos tiefen
Zirkuszelt unter sich. »Sie sagen doch selbst, daß sie es schon wissen«,
erwiderte die Schwester zaudernd.
»Was?« frage
Lillian ohne Atem.
»Ihre
Aufnahme – Sie verstehen sie doch ...«
Die Stille der
Erwartung war plötzlich keine Stille mehr. Sie war ein hohes, fremdes Sausen in
den Ohren. »Natürlich weiß ich, daß es nicht besser geworden ist«, sagte
Lillian mühsam. »Das kommt ja oft genug vor.«
»Natürlich«,
plapperte die Schwester erleichtert. »Es gibt immer Schwankungen. Nach oben und
nach unten. Kleine Rückfälle kommen immer vor. Besonders im Winter.«
»Und im Frühjahr«,
sagte Lillian. »Und im Sommer. Und im Herbst.«
Die Schwester
lachte. »Sie haben Humor. Wenn Sie nur ruhiger werden könnten! Und den
Anordnungen des Professors folgen! Er weiß doch schließlich alles am besten.«
»Das werde ich tun.
Vergessen Sie nicht Ihr Kleid.«
Lillian wartete
ungeduldig darauf, daß die Schwester die Aufnahmen und das Kleid nehme und
ginge. Es schien ihr, als wäre mit ihr ein Hauch Tod in das Zimmer gekommen,
mitgeschleppt in den Falten der weißen Uniform aus Manuelas Zimmer. Wie
ahnungslos sie ist! dachte sie. Wie ahnungslos wir alle immer miteinander sind!
Warum geht sie nicht? Wie langsam und mit welch ekelhaftem Wohlgefallen sie das
Kleid über den Arm nimmt!
»Die paar Pfunde
holen Sie rasch auf«, sagte die Schwester. »Nur immer gut essen! Heute abend
zum Beispiel! Da gibt es als Nachspeise
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