E.M. Remarque
ein
Rennfanatiker.
Lillian war sehr
erregt. Sie starrte in die dramatische Nacht draußen. Irgendwo hoch über den
Bergen tobte ein Sturm, von dem man unten nichts merkte. Der Mond glitt hinter
den zerrissenen Wolken hervor und tauchte zurück in sie, und die Wolkenschatten
machten die weißen Hänge lebendig, als flögen gigantische Schatten-Flamingos
mit mächtigen Schwingen um die Welt.
Im Kamin der Hütte
brannte ein großes Feuer. Es gab heißen Punsch und Wein zu trinken. »Was
möchten Sie?« fragte Clerfayt. »Alles ist heiß, was ausgeschenkt wird, der
Punsch und der Glühwein – aber der Oberkellner hat für uns etwas Wodka und
Kognak vorrätig, wenn wir wollen. Ich habe ihn heute nachmittag eine Runde mit
Giuseppe durchs Dorf machen lassen. Er hat zwei Kerzen verölt und war
glücklich. Wollen Sie Kognak? Ich schlage Glühwein vor.«
»Gut«, sagte
Lillian. »Glühwein.«
Der Kellner brachte
die Gläser. »Wann fahren Sie morgen?« fragte Lillian.
»Vor dem
Dunkelwerden.«
»Wohin?«
»Nach Paris. Fahren
Sie mit?«
»Ja«, erwiderte
Lillian.
Clerfayt lachte; er
glaubte ihr nicht. »Gut«, sagte er. »Sie können aber nicht viel Gepäck
mitnehmen. Giuseppe ist nicht dafür eingerichtet.«
»Ich brauche nicht
viel. Den Rest kann ich nachschicken lassen. Wo machen wir zuerst Station?«
»Wir fahren aus dem
Schnee heraus, weil Sie ihn so hassen. Nicht sehr weit. Über die Berge ins
Tessin. Zum Lago Maggiore. Dort ist es schon Frühling.«
»Und dann?«
»Nach Genf.«
»Und dann?«
»Nach Paris.«
»Kann man nicht
gleich nach Paris fahren?«
»Dann müßten wir
schon diese Nacht aufbrechen. Es ist etwas zu weit für einen Tag.«
»Kann man vom Lago
Maggiore in einem Tag hinkommen?«
Clerfayt
betrachtete sie plötzlich aufmerksam. Er hatte alles bis jetzt für eine
Spielerei gehalten; aber sie fragte zu eingehend für eine Spielerei. »Man kann
in einem langen Tag hinkommen«, sagte er. »Aber warum? Wollen Sie die
Narzissenwiesen um Genf nicht sehen? Jeder will sie sehen.«
»Ich kann sie im
Vorbeifahren sehen.«
Auf der Terrasse
wurde ein Feuerwerk abgebrannt. Raketen stiegen auf, Lichträder drehten sich
mit fliegenden Funken, und dann kamen Geschosse, die rot und steil aufstiegen
und die, wenn man schon glaubte, sie hätten sich auf ihrem einsamen Fluge
erschöpft, plötzlich in Garben von Gold und Grün und Blau zersprangen und in
Hunderten von glitzernden Bällen wieder zur Erde zurückstürzten.
»Um Gottes willen!«
flüsterte Hollmann plötzlich. »Der Dalai Lama!«
»Wo?«
»In der Tür. Er ist
gerade gekommen.«
Der Professor stand
tatsächlich bleich und kahlköpfig am Eingang und musterte das Getümmel in der
Hütte. Er trug einen grauen Anzug. Jemand stülpte ihm eine Papierkappe über den
Kopf. Er wischte sie herunter und steuerte auf einen Tisch zu, der nicht weit
von der Tür entfernt war.
»Wer konnte das
ahnen?« sagte Hollmann. »Was wollen wir jetzt tun?«
»Gar nichts«, sagte
Lillian.
»Sollen wir uns
nicht vorsichtig mit den anderen hinausdrücken?«
»Nein.«
»Er erkennt Sie
nicht, Hollmann«, erklärte Dolores Palmer. »Mit Ihrem Schnurrbart.«
»Aber Sie! Und
Lillian. Lillian besonders.«
»Wir können uns so
setzen, daß er eure Gesichter nicht sehen kann«, sagte Charles Ney und stand
auf. Dolores wechselte ihren Platz mit ihm, und Maria Savini nahm den Stuhl von
Hollmann. Clerfayt lächelte amüsiert und sah zu Lillian hinüber, ob sie nicht
mit ihm wechseln wolle. Sie schüttelte den Kopf. »Tun Sie es, Lillian«, sagte
Charles. »Er erkennt Sie sonst, und morgen gibt es großen Krach. Wir haben
diesen Monat ohnehin schon allerhand auf dem Kerbholz.«
Lillian sah das
bleiche Gesicht des Dalai Lama mit den blassen Augen wie einen Mond über den
Tischen schweben,
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