E.M. Remarque
küßte ihn. »Ich
drehe mich im Kreise. Für eine Weile. Wie ein Tänzer.«
Dann wurde sie
ungeduldig und wollte fort. Von einem Tage zum andern schien es ihr, als sei
sie Monate in Sizilien gewesen. Es waren auch Monate, dachte sie – Monate
für sie. Sie hatte eine eigene Zeitrechnung. Zwischen Tag und Tag lag für sie
jedes Mal die Nacht wie eine Schlucht von Wochen und das einsame Erwachen. Sie
ließ Clerfayt nie die ganze Nacht bei sich bleiben. Sie achtete darauf, daß er
morgens nicht da war, wenn sie erwachte. Er hielt es für eine Laune; aber sie
wollte nicht, daß er sie husten hörte.
Sie flog nach Rom,
um von da weiterzufliegen. Clerfayt fuhr mit Torriani den Wagen zurück. Sie
wollten sich in Paris wiedertreffen.
Sie wanderte einen
Nachmittag unter den Ruinen Roms herum. Am nächsten Tag saß sie vor den Cafés
an der Via Veneto. Sie hätte abends weiterfliegen sollen, aber sie zögerte.
Eine Schwermut ohne Grund hatte sie plötzlich ergriffen, ein Gefühl von großer
Süße, ohne andere Trauer als vielleicht die eine, letzte, die silbern und grau
am Horizont jedes Lebens steht, das nicht vollzogen wird wie das eines
Buchhalters. Sie blieb die Nacht über im Hotel und ging erst am nächsten
Vormittag zum Büro der Fluglinie. Dort sah sie im Schaufenster ein Plakat von
Venedig, und ihr fiel wieder ein, was sie bei Levalli zu Clerfayt gesagt hatte;
ohne weiter nachzudenken trat sie ein und ließ ihr Billett nach Venedig
umschreiben. Ihr schien, sie müsse hinfahren, bevor sie nach Paris
zurückkehrte. Sie wollte sich über irgend etwas klar werden, sie wußte noch
nicht genau über was; aber sie mußte es tun, ehe sie Clerfayt wieder sah.
»Wann geht das
Flugzeug?« fragte sie.
»In zwei Stunden.«
Sie ging zum Hotel
zurück und packte. Sie nahm an, daß Clerfayt bereits in Paris sei, aber sie
zögerte, ihm zu telefonieren oder zu schreiben, daß sie noch nicht käme. Sie
konnte das von Venedig aus tun, dachte sie und wußte, daß sie es nicht tun
würde. Sie wollte ein paar Tage allein sein, spürte sie, allein und
unerreichbar, unbeeinflussbar, bevor sie zurückkehrte. Zurückkehrte? dachte
sie. Wohin? War sie nicht abgeflogen, und flog sie nicht immer noch wie einer
der Vögel der Sage, die ohne Füße geboren werden und fliegen müssen, bis sie
sterben? Aber hatte sie das nicht gewollt? Und wollte sie sich jetzt nicht
darüber klar werden, ob sie nicht auch Clerfayt verlassen sollte?
Das Flugzeug senkte
sich in den rosigen späten Nachmittag der Lagune. Lillian bekam ein Eckzimmer
im Hotel Danieli. Der Aufzugführer erklärte ihr beim Hinauffahren, daß dies das
Hotel der stürmischen Romanze zwischen der alternden George Sand und dem jungen
Alfred de Musset sei.
»Und was geschah?
Mit wem hat er sie betrogen?«
»Mit niemand,
Mademoiselle. Er war verzweifelt. Madame Sand hat ihn betrogen.« Der
Aufzugführer lächelte. »Mit einem italienischen Arzt. Monsieur de Musset war
ein Poet.«
Lillian sah den
Funken von Ironie und Amüsement im Auge des Mannes. Wahrscheinlich hat sie sich
selbst betrogen, dachte sie, und liebte den einen, während sie bei dem anderen
war.
Der Aufzugführer
öffnete die Tür. »Sie hat ihn verlassen«, erklärte er. »Sie ist abgereist, ohne
es ihm zu sagen.«
Sie wie ich, dachte
Lillian. Will ich mich etwa auch selbst betrügen?
Sie trat in ihr
Zimmer und blieb stehen. Der Raum war mit dem schwebenden rosafarbenen Licht
des Abends gefüllt, das es nur in Venedig gibt. Sie ging zum Fenster und
blickte hinaus. Das Wasser war blau und still, aber es hob und senkte die
Reihen der Gondeln, wenn ein Vaporetto vor San Zacearia heranrauschte und
hielt. Die ersten Lichter blinkten auf, sehr weiß und verloren in all dem Rosa
und Blau, bis auf die
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