E.M. Remarque
es kämpfte, und wie alles sich in einen Spuk
verwandelte, in dem man nach Atem rang! Die Reihen der Gondeln, die vor den Anlegestellen
wie schwarze Särge auf dem spiegelnden Wasser schwankten, wie schwarze, große
Wassergeier, die mit metallenen Schnäbeln nach ihr zu hacken versuchten,
vorbei, und dann die Piazetta, Lichtrauch, Weite und Sterne, ein heller Raum
mit dem Himmel als Decke, und unter der Seufzerbrücke ein unerträglich süßer
Tenor, der Santa Lucia sang in einem Boot mit Touristen. Wenn das jetzt Sterben
wäre, dachte Lillian, so dazuliegen, den Kopf rückwärts, das Rauschen des
Wassers dicht neben sich, den Fetzen Gesang vor sich und einen unbekannten
Menschen neben sich, der immer wieder fragte: »How are you feeling? Könnten Sie
noch zwei Minuten durchhalten? Wir sind gleich da.« Nein, es war nicht Sterben,
wußte sie.
Mario half ihr aus
dem Boot. »Zahlen«, flüsterte sie dem Portier am Kanaleingang des Danieli zu.
»Für mich. Und einen Arzt! Sofort.«
Mario brachte sie
durch die Halle. Es waren nicht viele Leute da. Ein Tisch mit Amerikanern
starrte sie an. Irgendwo sah sie ein Gesicht, das sie kannte, aber sie konnte
sich nicht erinnern.
Der junge
Aufzugführer hatte noch immer Dienst.
Lillian lächelte
mühsam. »Dies ist ein dramatisches Hotel«, flüsterte sie. »Sagten sie das
nicht?«
»Nicht sprechen
Madame«, sagte Mario. Er war ein wohlerzogener Schutzengel mit einer Stimme aus
Samt. »Der Arzt kommt sofort. Doktor Pisani. Er ist sehr gut. Nicht sprechen!
Bring Eisstücke«, sagte er zu dem Fahrstuhlführer.
Sie lag eine Woche in
ihrem Zimmer. Die Fenster waren offen, so warm war es bereits. Sie hatte
Clerfayt nicht benachrichtigt. Sie wollte nicht, daß er sie krank fände. Sie
wollte ihn auch nicht an ihrem Bett sehen. Dies war ihre Sache; ihre allein.
Sie schlief und dämmerte durch die Tage, sie hörte die rauen Rufe der
Gondolieri bis spät in die Nacht und das Klatschen der festgemachten Gondeln an
der Riva degli Schiavoni. Der Arzt kam ab und zu, und Mario kam. Nichts war
sehr gefährlich, und war nur eine kleinere Blutung, der Arzt verstand sie, und
Mario brachte ihr Blumen und erzählte ihr von seinem schweren Leben mit älteren
Damen. Wenn er nur einmal eine reiche, junge fände, die ihn verstände. Er
meinte nicht Lillian. Lillian hatte er in einem Tag durchschaut und begriffen.
Er war völlig offen mit ihr und sprach mit ihr wie mit einer Kollegin vom
selben Fach. »Du lebst vom Tode wie ich von Frauen, die Torschlusspanik haben«,
sagte er und lachte. »Oder anders: Du hast auch Torschlusspanik, aber dein
Gigolo ist der Tod. Der Unterschied ist nur, daß er dir treu bleibt. Dafür aber
betrügst du ihn, wo du kannst.«
Lillian hörte ihm
belustigt zu. »Unser aller Gigolo ist der Tod. Die meisten wissen es nur
nicht«, sagte sie. »Was willst du später tun, Mario? Eine von deinen älteren
Damen heiraten?«
Mario schüttelte ernsthaft
den Kopf. »Ich spare. Wenn ich genug habe in ein paar Jahren, mache ich eine
kleine, elegante Bar auf. So wie Harry's Bar. Ich habe eine Verlobte in Padua,
die erstklassig kocht. Ihre Fettucini!« Mario küßte seine Fingerspitzen.
»Kommst du mit deinen Bekannten?«
»Ich komme«, sagte
Lillian, gerührt über die Delikatesse, mit der er sie zu trösten versuchte,
indem er vorgab zu glauben, daß sie noch so lange leben würde. Aber hatte nicht
sie selbst auch heimlich noch an ein kleines privates Wunder geglaubt? Daran,
daß gerade das, wovon man ihr abriet, gut für sie sein könne? Ich war eine
romantische Sentimentale, dachte sie, mit der kindlichen Erwartung, daß
irgendeine Muttergöttin mich aus jeder verzweifelten Situation mit einem
gutmütigen Klaps retten würde. Sie sah Marios Kopf vor dem
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