E.M. Remarque
orangefarbenen Warnungslichter die Untiefen entlang, die
sich wie eine leuchtende Kette zärtlich um den Nacken von San Giorgio Maggiore
legten. Diese Stadt war am weitesten von allen Bergen fort, dachte Lillian.
Weiter konnte man nicht entfliehen. Nichts zermalmte hier; alles streichelte.
Und alles war fremd und zauberhaft. Niemand kennt mich hier, dachte sie. Und
niemand weiß, daß ich hier bin! Sie empfand diese Anonymität wie ein
sonderbares, stürmisches Glück, das Glück, einem Glück entkommen zu sein, auf
kurze Zeit oder für immer.
Es verstärkte sich,
als sie über die Piazza ging. Etwas vom Abenteuer jeden Anfangs war darin. Sie
hatte kein Ziel; sie ließ sich treiben und landete im unteren Restaurant von
Quadri, weil sie es charmant fand, daß ein kleiner Ess-Salon mit Wandmalereien
nach Szenen aus dem achtzehnten Jahrhundert und goldenen Appliken sich einfach
nach der Straße zu öffnete. Sie aß Scampis und trank einen leichten weißen
Wein. Neben ihr an den Wänden tanzten Masken. Sie fühlte sich ähnlich,
entkommen, versteckt in einer unsichtbaren Maske, in demselben sanften Rausch
verantwortungsloser Freiheit, den jede Maske gab. Tausend Anfänge lagen vor ihr
in der rosa Dämmerung, so wie die tausend Gassen dieser Stadt, die die Masken
liebte. Wohin führten sie? Zu unbekannten, ungenannten neuen Entdeckungen oder
nur zu reizvollen, ermüdenden Wiederholungen, aus denen man mit dem
Katzenjammer hervorkam, das Kostbarste daran verschwendet zu haben, was es gab:
Zeit? Man muß sie verschwenden, dachte Lillian, gedankenlos, trotz allem, oder
man ist wie der Mann im Märchen, der so viel wollte für sein Goldstück, daß er
sich nicht entscheiden konnte, was, und darüber starb.
»Wohin kann ich
heute abend gehen?« fragte sie den Kellner.
»Heute abend? Vielleicht
ins Theater, Signora.«
»Gibt es da noch
Plätze?«
»Wahrscheinlich. Im
Theater gibt es immer noch Plätze.«
»Wie kommt man zum
Theater?«
Der Kellner begann
ihr den Weg zu beschreiben.
»Kann man keine
Gondel nehmen?« fragte sie.
»Auch das. Früher
hat man es immer getan. Jetzt nicht mehr. Das Theater hat zwei Eingänge. Es ist
nicht weit zu gehen.«
Lillian nahm eine
Gondel beim Palazzo Ducale. Der Kellner hatte recht gehabt, außer ihr kam nur
noch eine zweite Gondel an. Ein älteres amerikanisches Liebespaar saß darin und
photographierte mit Blitzlicht. Es photographierte auch Lillians Gondel. »Eine
Frau sollte in Venedig nicht allein sein«, sagte der Gondoliere, während er ihr
beim Aussteigen half.
»Eine junge Frau
noch weniger. Eine schöne nie.«
Lillian sah ihn an.
Er war alt und wirkte nicht, als wolle er sich selbst als Medizin anpreisen.
»Kann man hier je allein sein?« sagte sie und sah in den roten Abend über den
Dächern.
»Hier mehr als
irgendwo anders, Signora. Wenn man nicht hier geboren ist, natürlich.«
Lillian kam gerade
zurecht, als der Vorhang aufging. Ein Lustspiel aus dem achtzehnten Jahrhundert
wurde gespielt. Sie sah sich im Theater um, das vom Licht der Bühne und der
Soffitten gedämpft erleuchtet war. Es war das schönste Theater der Welt, und es
mußte vor der Einführung des elektrischen Lichtes, mit seinen vielen Kerzen und
den bemalten Rängen zauberhaft gewesen sein. Es war es noch immer.
Sie blickte auf die
Bühne. Sie verstand nicht viel Italienisch und gab es bald auf, zuzuhören. Das
merkwürdige Gefühl von Einsamkeit und Schwermut, das sie schon in Rom gehabt
hatte, ergriff sie wieder. Hatte der Gondoliere recht? Oder kam es daher, daß
sie es auf eine so nachdrückliche Weise symbolisch fand, daß man irgendwo
ankam, einem Spiel lauschte, von dem man nichts verstand, und es verlassen
mußte, wenn man gerade begann, etwas zu ahnen?
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