E.M. Remarque
Geheimnis, das sie kannte und das
die andern zu ignorieren schienen, ließ sich nicht vergessen. Es blieb mit ihr,
wohin sie auch floh. Ihr war, als fiele jäh die bunte und goldene Dekoration
eines Theaterstückes zusammen, und sie könne das kahle Gerüst dahinter sehen.
Es war keine Ernüchterung; nur ein Moment großer Klarsicht: Sie konnte nicht
zurück, und es gab keine Hilfe von außen. Dafür aber, das fühlte sie im selben
Augenblick, sprang die eine, letzte Fontäne, die ihr geblieben war, um so
höher, ihre Kraft wurde nicht mehr auf ein Dutzend Brunnen verteilt, sondern
nur noch auf einen, um so zu versuchen, die Wolken und Gott zu erreichen. Sie
würde sie nie erreichen, – aber war nicht der Versuch auch schon genug,
und das Zurücksinken des tanzenden Wassers zu sich selbst bereits auch eine
Erfüllung? Zu sich selbst, dachte sie. Wie weit man floh, und wie hoch man
zielen mußte, um dahin zu gelangen!
Ihr war plötzlich,
als sei eine anonyme Last von ihr genommen worden. Etwas wie eine dumpfe,
überlebte Verantwortung sank von ihren Schultern auf die Holztreppen der
Tribüne hinunter, und sie stieg darüber hinaus wie über ein altes Kleid. Wenn
auch die Dekorationen des Theaterstückes gefallen waren: das Gerüst war
geblieben, und wer seine Kahlheit nicht fürchtete, der war unabhängig und
konnte mit und vor ihm spielen, wie er wollte, und wie es seiner Angst oder
seiner Kühnheit entsprach. Er konnte seine eigene Einsamkeit in tausend
Variationen daran aufziehen, sogar in der Liebe – das Stück hörte nie auf.
Es verwandelte sich nur. Man wurde sein einziger Schauspieler und Zuschauer
zugleich.
Der Beifall der
Menge knatterte wie eine Maschinengewehrsalve um sie her. Die Fahrer kamen
zurück. Klein und bunt schossen sie durchs Ziel. Lillian blieb auf der Treppe
stehen, bis sie Clerfayts Wagen sah. Dann stieg sie langsam, umraucht von
fremdem Beifall, die Treppen hinunter, in die Kühle einer neuen, kostbaren
Erkenntnis, die ebensogut den Namen Freiheit wie Einsamkeit tragen konnte, und
in die Wärme einer Liebe, in der bereits das Wort Verlassen rauschte, und beide
kamen ihr entgegen wie eine Sommernacht, in der Fontänen sprangen.
Clerfayt hatte das
Blut abgewischt, aber seine Lippen tropften noch. »Ich kann dich nicht küssen«,
sagte er.
»Hast du Angst
gehabt?«
»Nein. Aber du
solltest nicht mehr fahren.«
»Natürlich nicht«,
erwiderte Clerfayt geduldig. Er kannte diese Reaktion. »War ich so schlecht?«
fragte er und verzog vorsichtig das Gesicht.
»Es war großartig«,
sagte Torriani, der mit käsigem Gesicht auf einer Kiste saß und Kognak trank.
Lillian blickte ihn
feindselig an. »Es ist vorbei«, sagte Clerfayt. »Denk nicht mehr daran,
Lillian. Es war nicht gefährlich. Es sah nur so aus.«
»Du solltest nicht
fahren«, wiederholte sie.
»Gut. Morgen
zerreißen wir den Kontrakt. Zufrieden?«
Torriani lachte.
»Und übermorgen kleben wir ihn wieder zusammen.«
Der Rennleiter
Gabrielli kam vorbei, und die Monteure schoben die Wagen herein. Es stank nach
verbranntem Öl und Benzin. »Kommen Sie heute abend, Clerfayt?« fragte
Gabrielli.
Clerfayt nickte.
»Wir sind hier im Wege, Lillian«, sagte er dann. »Lass uns aus diesem
schmutzigen Stall ausbrechen.« Er sah ihr Gesicht. Es hatte noch immer den
sonderbaren Ernst wie vorher. »Was ist los?« fragte er. »Willst du wirklich,
daß ich nicht mehr fahre?«
»Ja.«
»Warum?«
Sie zögerte. »Ich
weiß nicht, wie ich es sagen soll – aber es ist, irgendwie – tief
unmoralisch.«
»Großer Gott!«
sagte Torriani.
»Sei ruhig,
Alfredo«, erwiderte Clerfayt.
»Es klingt albern,
ich weiß es«, sagte Lillian. »Ich meine es auch nicht so. Vor ein paar Minuten
wußte ich es noch ganz klar;
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