E.M. Remarque
abgeholt?« fragte sie.
Eine der Putzfrauen
richtete sich auf. »Sie ist auf Nummer sieben gebracht worden. Wir müssen hier
saubermachen. Morgen früh kommt schon eine Neue.«
»Danke.«
Lillian schloß die
Tür. Sie kannte Nummer sieben; es war ein kleines Zimmer neben dem
Gepäckaufzug. Die Toten wurden dahin gebracht, weil sie von da leicht nachts
mit dem Aufzug nach unten zu schaffen waren. Wie Koffer, dachte Lillian. Und
hinter ihnen wusch man mit Seife und Lysol ihre letzten Spuren fort.
In Zimmer sieben
brannte kein Licht. Es waren auch keine Kerzen mehr da. Der Sarg war bereits
geschlossen. Man hatte den Deckel über das schmale Gesicht und das leuchtende,
rote Haar gestülpt und ihn zugeschraubt. Alles war vorbereitet zum Transport.
Die Blumen waren vom Sarg genommen worden; sie lagen in einem Stück Wachstuch
auf einem Tisch nebenan. Das Wachstuch hatte Ringe mit Schnüren, so daß man die
Blumen mit einem Griff transportieren konnte. Die Kränze lagen daneben,
übereinander geschichtet, wie Hüte in einem Hutgeschäft. Die Vorhänge waren
nicht zugezogen, und die Fenster standen offen. Es war sehr kalt im Zimmer. Der
Mond schien hinein.
Lillian war
gekommen, um die Tote noch einmal zu sehen. Es war zu spät. Niemand würde das
blasse Gesicht und das leuchtende Haar, das einmal Agnes Somerville gewesen
war, jemals wieder sehen. Man würde den Sarg diese Nacht heimlich
hinunterbringen und ihn auf einem Schlitten zum Krematorium transportieren.
Dort würde er unter dem plötzlichen Ansturm des Feuers zu brennen beginnen, das
rote Haar würde noch einmal knistern und Funken sprühen, der starre Körper
würde sich in den Flammen noch einmal aufbäumen, als wäre er wieder lebendig
geworden – und dann würde alles zusammensinken zu Asche und Nichts und ein
bißchen fahler Erinnerung.
Lillian blickte auf
den Sarg. Wenn sie noch lebte! dachte sie plötzlich. Konnte es nicht sein, daß
sie noch einmal zu sich gekommen war in diesem unerbittlichen Kasten? Gab es
das nicht manchmal? Wer wußte denn, wie oft das geschah? Man kannte nur die
wenigen Fälle, in denen Scheintote gerettet worden waren, aber wer wußte, wie
viele schweigend erstickt waren, die man nie gefunden hatte? Konnte es nicht
sein, daß Agnes Somerville jetzt, gerade jetzt, in der engen Dunkelheit der
raschelnden Seide zu schreien versuchte, mit vertrockneter Kehle, ohne einen
Laut hervorbringen zu können?
Ich bin verrückt,
dachte Lillian; was denke ich da? Ich hätte nicht hierher gehen sollen! Warum
habe ich es getan? Aus Sentimentalität? Aus Verwirrung? Oder aus dieser
entsetzlichen Neugier heraus, noch einmal in ein totes Gesicht zu starren wie
in einen Abgrund, dem man vielleicht doch noch eine Antwort entreißen kann?
Licht, dachte sie, ich muß Licht machen!
Sie ging zur Tür
zurück; aber plötzlich blieb sie stehen und lauschte. Sie glaubte ein Knistern
gehört zu haben, sehr leise, aber deutlich, als kratzten Nägel auf Seide. Rasch
drehte sie den Schalter an. Das scharfe Licht der ungeschützten Lampe an der
Decke trieb die Nacht, den Mond und das Entsetzen zurück. Ich höre Gespenster,
dachte sie. Es war mein eigenes Kleid. Es waren meine eigenen Nägel. Es war
nicht ein müder, letzter Rest von Leben, der sich noch einmal geregt hat.
Sie starrte wieder
auf den Sarg, der jetzt im grellen Licht stand. Nein – dieser schwarze,
polierte Kasten mit den Bronzegriffen enthielt kein Leben mehr. Im
Gegenteil – in ihm war die finsterste Drohung eingeschlossen, die die
Menschheit kannte. Es war nicht mehr Agnes Somerville, ihre Freundin, die in
ihrem goldenen Kleide regungslos, mit gestocktem Blut und zerfallenden Lungen
in ihm lag – es war auch nicht mehr das wächserne Abbild eines
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