E.M. Remarque
ging abends zu Betty
Stein, um mich für das geliehene Geld zu bedanken. Ich fand sie mit verweinten
Augen in sehr gedrückter Stimmung. Bei ihr waren einige ihrer Bekannten, die
sie anscheinend trösteten. »Ich kann morgen wiederkommen, wenn ich heute
störe«, sagte ich. »Ich wollte mich nur bedanken.«
»Was?«
Betty sah mich verstört an. »Für das Geld«,
sagte ich, »das ich dem Anwalt brachte. Man hat meine Erlaubnis verlängert. Ich
kann einstweilen hier bleiben.«
Sie brach in Tränen aus. »Was ist
passiert?« fragte ich den Schauspieler Rabinowitz, der Betty in den Arm nahm
und ihr zusprach.
»Wissen Sie es nicht? Moller ist tot.
Vorgestern.«
Rabinowitz machte mir ein Zeichen, nicht
weiterzufragen. Er führte Betty zu einem Sofa und kam zurück. Er spielte die
Rollen brutaler Nazis in B-Filmen und war ein sehr sanfter Mann. »Er hat sich
erhängt«, sagte er, »Lipschütz hat ihn gefunden. Er muß schon ein oder zwei
Tage tot gewesen sein. In seinem Zimmer. Er hing am Kronleuchter. Alle Lampen
brannten, auch am Kronleuchter. Vielleicht wollte er nicht allein im Dunkel
sterben. Er muß sich wohl nachts erhängt haben.«
Ich wollte gehen. »Bleiben Sie nur hier«,
sagte Rabinowitz. »Je mehr Leute bei Betty sind, desto besser ist es für sie.
Sie kann nicht allein sein.«
Die Luft im Zimmer war abgestanden und
schwül. Betty wollte kein Fenster offen haben. Aus einem rätselhaften,
atavistischen Aberglauben heraus glaubte sie, man täte dem Toten etwas an, wenn
sich die Trauer in die freie Luft verflüchtigen könne. Ich habe vor vielen
Jahren einmal gehört, daß man die Fenster öffne, wenn ein Toter im Hause läge,
um die im Zimmer umherirrende Seele zu befreien, aber nie, daß man sie
schließe, um die Trauer zu beherbergen.
»Ich bin eine dumme Kuh!« sagte Betty und
schnäuzte sich energisch. »Ich sollte mich zusammennehmen.« Sie stand auf. »Ich
werde euch Kaffee machen. Oder wollt ihr etwas anderes haben?«
»Gar nichts Betty, wirklich gar nichts.«
»Doch. Ich werde Kaffee machen.«
Sie ging mit ihrem verdrückten raschelnden
Kleid in die Küche.
»Weiß man irgendeinen Grund?« fragte ich
Rabinowitz.
»Braucht man einen Grund?«
Ich erinnerte mich an Kahns Theorie über
die Zäsuren im Leben und darüber, daß der Wurzellose besonders gefährdet sei.
»Nein«, sagte ich.
»Er war nicht ganz arm, das kann es nicht gewesen
sein. Er war auch nicht krank, vor ungefähr zwei Wochen hat Lipschütz ihn noch
gesehen.«
»Konnte er arbeiten?«
»Er konnte schreiben. Aber er konnte nichts
veröffentlichen. Er hat seit Jahren nichts veröffentlichen können«, sagte
Lipschütz. »Aber so geht es vielen. Das allein kann es auch nicht sein.«
»Hat er etwas hinterlassen?«
»Nichts. Er hing mit dem blauen Gesicht und
der dicken Zunge am Kronleuchter, und die Fliegen krochen über seine offenen
Augen. Er sah schon entsetzlich aus. In diesen heißen Tagen geht das schnell.
Die Augen ...« Lipschütz schüttelte sich. »Das Schlimmste ist, daß Betty ihn
noch einmal sehen will.«
»Wo ist er jetzt?«
»In einem Unternehmen, das hier Funeral
Home genannt wird. Beerdigungsheim. Die Leichen werden da zurechtgemacht. Waren
Sie schon einmal in einem solchen Etablissement? Gehen Sie nie hin. Die
Amerikaner sind ein junges Volk, sie erkennen den Tod nicht an. Die
Verstorbenen werden geschminkt, als schliefen sie nur. Viele werden auch
einbalsamiert.«
»Wenn er geschminkt wird ...« sagte ich.
»Das haben wir auch gedacht, aber es ist
fast nichts zu machen. So viel Schminke gibt es kaum. Es ist auch zu teuer.
Sterben ist furchtbar teuer in Amerika.«
»Nicht nur in Amerika«, sagte Rabinowitz.
»Nicht in Deutschland«, sagte ich.
»In Amerika ist es sehr teuer. Wir haben
schon ein einfaches
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