E.M. Remarque
ihre Hände gleiten. Sie wirkten zwischen den langen, schmalen Fingern
wie ein kostbarer Rosenkranz. »Ich komme mir vor wie der Ewige Jude«, sagte
sie, »auf der Suche nach Frieden. Aber es scheint, ich habe zur falschen Zeit
angefangen. Er ist nirgendwo mehr. Nur hier noch – hier ist noch ein Rest.«
Ravic blickte auf die Perlen. Formlose, graue Mollusken
hatten sie gebildet, gereizt durch einen Fremdkörper, ein Sandkorn zwischen
ihren Schalen. Aus zufälliger Irritation war so sanft schimmernde Schönheit
geworden. Man sollte sich das merken, dachte er. »Sie wollen doch nach Amerika
fahren, Kate«, sagte er. »Wer Europa verlassen kann, soll es tun. Für alles andere
ist es schon zu spät.«
»Wollen Sie mich fortschicken?«
»Nein. Aber sagten Sie nicht das letztemal, Sie wollten
Ihre Sachen regeln und nach Amerika zurückgehen?«
»Ja. Aber jetzt will ich es nicht mehr. Noch nicht. Ich
will noch hier bleiben.«
»Paris ist heiß und unangenehm im Sommer.«
Sie legte die Perlen beiseite. »Nicht, wenn es der letzte
Sommer ist, Ravic.«
»Der letzte?«
»Ja. Der letzte, bevor ich zurückfahre.«
Ravic schwieg. Was weiß Sie? dachte er. Was hat Fiola ihr
gesagt?
»Was macht die Scheherazade?« fragte sie.
»Ich war lange nicht da. Morosow sagte, sie sei jeden
Abend überfüllt. Wie alle anderen Nachtklubs auch.«
»Im Sommer?«
»Ja, im Sommer, wo die meisten Häuser geschlossen waren.
Wundert Sie das?«
»Nein. Jeder will noch mitnehmen, was er kann, bevor das
Ende kommt.«
»Ja«, sagte Ravic.
»Werden Sie mich einmal mit hinnehmen?«
»Natürlich, Kate. Immer, wenn Sie wollen. Ich dachte, Sie
wollten nicht mehr hingehen.«
»Das dachte ich auch. Ich habe meine Meinung gewechselt.
Ich will auch noch mitnehmen, was ich kann.«
Er sah sie wieder an. »Gut, Kate«, sagte er dann. »Wann
immer Sie wollen.«
Er stand auf. Sie ging mit ihm zur Tür. Sie lehnte in der
Türöffnung, schmal, mit der trockenen, seidenen Haut, die aussah, als werde sie
rascheln, wenn man sie berührte. Die Augen waren sehr klar und größer als
früher. Sie gab ihm die Hand. Sie war heiß und trocken. »Warum haben Sie mir
nicht gesagt, was mir fehlt?« fragte sie leichthin, als frage sie nach dem
Wetter.
Er starrte sie an und antwortete nicht.
»Ich hätte es ausgehalten«, sagte sie, und etwas wie der
Widerschein eines ironischen Lächelns ohne jeden Vorwurf huschte über ihr
Gesicht. »Adieu, Ravic.«
Der Mann ohne Magen war tot. Er hatte drei Tage lang
gestöhnt, und Morphium hatte wenig mehr genützt. Ravic und Veber hatten gewußt,
daß er sterben würde. Sie hätten ihm diese drei Tage ersparen können. Sie
hatten es nicht getan, weil es eine Religion gab, die die Liebe zum Nächsten
predigte und verbot, ihm seine Qualen zu verkürzen. Und es gab ein Gesetz, das
sie schützte.
»Haben Sie den Verwandten telegrafiert?« fragte Ravic.
»Er hat keine«, sagte Veber.
»Oder irgendwelchen Angehörigen?«
»Er hat niemand.« – »Niemand?«
»Niemand. Die Concierge seiner Wohnung war hier. Er bekam
nie Briefe – abgesehen von Warenhauskatalogen und Traktaten gegen die
Trunksucht, Tuberkulose, Geschlechtskrankheiten und so was. Er hatte nie
Besucher. Die Operation und vier Wochen Klinik hat er vorausbezahlt. Zwei
Wochen zuviel. Die Concierge behauptet, er habe ihr alles versprochen, was er
besitze, weil sie für ihn gesorgt habe. Sie wollte das Geld für die zwei Wochen
unbedingt zurückhaben. Sie sei wie eine Mutter gewesen. Sie hätten die Mutter
sehen müssen. Sagte, sie hätte allerlei Ausgaben für ihn gehabt. Die
Wohnungsmiete für ihn ausgelegt. Ich sagte ihr, er habe hier vorausbezahlt; es
gäbe keinen Grund, warum er das mit seiner Wohnung nicht auch gemacht hätte. Im
übrigen sei das alles eine
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