E.M. Remarque
kam. Man konnte von der Gestapo
wieder erwischt werden. Auf dem Tisch stand noch eine halbe Flasche Calvados.
Er trank ein Glas, Frankreich, dachte er. Fünf Jahre unruhigen Lebens. Drei
Monate Gefängnis, illegaler Aufenthalt, viermal ausgewiesen, zurückgekommen.
Fünf Jahre Leben. Es war gut gewesen.
33
33 Das
Telefon klingelte. Er hob es schläfrig ab. »Ravic …«, sagte jemand.
»Ja …« Es war Joan.
»Komm«, sagte sie. Sie sprach langsam und leise. »Sofort,
Ravic...«
»Nein.«
»Du mußt ...«
»Nein. Laß mich in Ruhe. Ich bin nicht allein. Ich komme
nicht.«
»Hilf mir ...«
»Ich kann dir nicht helfen ...«
»Etwas ist passiert …« Die Stimme klang gebrochen. »Du
mußt … sofort ...«
»Joan«, sagte Ravic ungeduldig. »Es ist keine Zeit für
dieses Theater mehr. Du hast das einmal mit mir gemacht, und ich bin darauf
’reingefallen. Ich weiß jetzt Bescheid. Laß mich in Ruhe. Versuch es mit jemand
anderem.«
Er legte den Hörer zurück, ohne eine Antwort abzuwarten,
und versuchte, wieder einzuschlafen. Es gelang ihm nicht. Das Telefon klingelte
wieder. Er nahm es nicht ab. Es klingelte und klingelte durch die graue,
verödete Nacht. Er nahm ein Kissen und packte es über den Apparat. Es klingelte
erstickt weiter und hörte dann auf.
Ravic wartete. Es blieb still. Er stand auf und griff
nach einer Zigarette. Sie schmeckte nicht. Er drückte sie aus. Der Rest des
Calvados stand noch auf dem Tisch. Er trank einen Schluck und stellte ihn weg.
Kaffee, dachte er. Heißer Kaffee. Und Butter und frische Croissants. Er wußte
ein Bistro, das die ganze Nacht offen war.
Er sah auf die Uhr. Er hatte nur zwei Stunden geschlafen,
aber er war nicht mehr müde. Es hatte keinen Zweck, in einen schweren, zweiten
Schlaf zu fallen und zerschlagen aufzuwachen. Er ging ins Badezimmer und drehte
die Brause an.
Irgendein Geräusch. Wieder das Telefon? Er drehte die
Wasserhähne ab. Es klopfte. Jemand klopfte an seine Tür. Ravic nahm seinen
Bademantel über. Das Klopfen wurde stärker. Joan konnte es nicht sein; sie wäre
hereingekommen. Die Tür war nicht verschlossen. Er wartete einen Moment, bevor
er öffnete. Wenn es die Polizei bereits war …
Er öffnete die Tür. Draußen stand ein Mann, den er nicht
kannte, der ihn aber an irgend jemand erinnerte. Er trug einen Smoking.
»Doktor Ravic?«
Ravic erwiderte nichts. Er sah den Mann an. »Was wollen
Sie?« fragte er.
»Sind Sie Doktor Ravic?«
»Sagen Sie mir besser, was Sie wollen.«
»Wenn Sie Doktor Ravic sind, müssen Sie sofort zu Joan
Madou kommen.«
»So?«
»Sie hat einen Unfall gehabt.«
»Was für einen Unfall?« lächelte Ravic ungläubig.
»Mit einer Waffe«, sagte der Mann. »Geschossen ...«
»Ist sie getroffen?« fragte Ravic, immer noch lächelnd.
Fingierter Selbstmordversuch wahrscheinlich, dachte er, um den armen Teufel
hier zu erschrecken.
»Sie stirbt, mein Gott«, flüsterte der Mann. »So kommen
Sie doch! Sie stirbt. Ich habe sie erschossen!«
»Was?«
»Ja … ich ...«
Ravic hatte bereits den Bademantel abgeworfen und griff
nach seinen Sachen. »Haben Sie ein Taxi unten?«
»Ich habe meinen Wagen.«
»Verdammt …« Ravic streifte den Bademantel wieder über,
faßte seine Tasche und griff nach seinen Schuhen, seinem Hemd und seinem Anzug.
»Ich kann das im Wagen anziehen … los … rasch.«
Der Wagen schoß durch die milchige Nacht. Die Stadt war
ganz abgedunkelt. Es gab keine Straßen mehr – nur eine fließende, neblige
Weite, in der die blauen Luftschutzlampen zu spät und verloren auftauchten – als
fahre der Wagen auf dem Meeresboden.
Ravic zog seine Schuhe und seine Sachen an; er stopfte
den Bademantel, in dem er heruntergelaufen war, in die Ecke neben dem Sitz. Er
hatte keine Strümpfe und keine Krawatte.
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