E.M. Remarque
gedrückt, die Hände vor den
Augen. Das Zimmer war hell erleuchtet. Alle Birnen brannten, und auf dem Tisch
standen noch zwei Leuchter mit Kerzen.
»Kakerlaken«, murmelte
die Frau. »Kakerlaken! Schwarze, dicke, glänzende Kakerlaken! Da in den Ecken,
da sitzen sie, Tausende, Unzählige, macht Licht, macht Licht, Licht, sonst
kommen sie, Licht, Licht, sie kommen, sie kommen ...«
Sie schrie und preßte sich in die Ecke, die Beine hoch
angezogen, die Hände von sich gespreizt, die Augen glasig und aufgerissen. Der
Mann versuchte ihre Hände zu greifen. »Da ist doch nichts, Mamme, nichts in den
Ecken ...«
»Licht! Licht! Sie kommen! Kakerlaken ...«
»Wir haben Licht, Mamme. Da ist doch Licht, sieh nur,
sogar Kerzen auf dem Tisch!« Er holte eine Taschenlampe hervor und leuchtete
damit in die hellen Ecken des hellen Zimmers. »Nichts ist in den Ecken, da
sieh, wie ich leuchte, nichts ist da, nichts .,.«
»Kakerlaken! Kakerlaken! Sie kommen, alles ist schwarz
von Kakerlaken! Aus allen Ecken kriechen sie! Licht! Licht! Die Wände hinauf
kriechen sie, sie fallen schon von der Decke!«
Die Frau röchelte und hob die Arme über den Kopf. »Wie
lange geht das schon?« fragte Ravic den Mann.
»Seit es dunkel ist. Ich war weg. Versuchte noch einmal,
man hatte mir gesagt, beim Konsul von Haiti, ich nahm den Jungen mit, es war
nichts, wieder nichts, und als wir zurückkamen, saß sie da in der Ecke auf dem
Bett und schrie ...«
Ravic hatte die Spritze fertig. »Hatte sie vorher
geschlafen?«
Der Mann sah ihn hilflos an. »Ich weiß nicht. Sie war
immer ruhig. Wir haben kein Geld für eine Anstalt. Wir haben auch keine …
unsere Papiere sind nicht genug. Wenn sie nur aufhören wollte. Mamme, es ist
doch alles da, ich bin da, Siegfried ist da, der Doktor ist da, keine
Kakerlaken sind da ...«
»Kakerlaken!« unterbrach die Frau. »Von allen Seiten! Sie
kriechen! Kriechen ...«
Ravic machte die Spritze. »Hat sie irgendwann schon
einmal so etwas gehabt?«
»Nein. Ich verstehe es nicht. Ich weiß nicht, warum sie
gerade von ...«
Ravic hob die Hand. »Erinnern Sie sie nicht daran. Sie
wird in ein paar Minuten müde werden und einschlafen. Es kann sein, daß sie
geträumt hat davon – und aufgeschreckt ist. Sie wird vielleicht morgen
aufwachen und nichts mehr wissen. Erinnern Sie sie nicht daran. Tun Sie, als
sei nichts gewesen.«
»Kakerlaken«, murmelte die Frau schläfrig. »Fette, dicke
...«
»Brauchen Sie all das Licht?«
»Wir haben es angezündet, weil sie immerzu nach Licht
schrie.«
»Machen Sie das Oberlicht aus. Warten Sie mit dem andern,
bis sie fest schläft. Sie wird schlafen. Die Dosis ist groß genug. Ich werde
morgen vormittag um elf nachsehen.«
»Danke«, sagte der Mann. »Sie glauben nicht ...«
»Nein. So was kommt heutzutage oft vor. Etwas Vorsicht
die nächsten Tage, nicht allzuviel Sorgen zeigen ...«
Leicht gesagt, dachte er, als er zu seinem Zimmer
hinaufstieg. Er drehte das Licht an. Neben seinem Bett standen seine Bücher.
Seneca, Schopenhauer, Plato, Rilke, Laotse, Litaipe, Pascal, Heraklit, eine
Bibel, andere – das Härteste und das Weichste, viele in den schmalen
Dünndruckausgaben für jemand, der unterwegs war und wenig mitführen konnte. Er
suchte aus, was er mitnehmen wollte. Dann sah er seine übrigen Sachen durch. Es
war nicht viel zu zerreißen. Er hatte immer so gelebt, daß man ihn plötzlich
abholen konnte. Seine alte Decke, der Mantel – sie würden ihm helfen, wie
Freunde. Das Gift in der ausgehöhlten Medaille, das er schon mit ins deutsche
Konzentrationslager genommen hatte – das Bewußtsein, es zu haben und es jeden
Augenblick brauchen zu können, hatte ihn es leichter überstehen lassen –; er
steckte die Medaille ein. Besser, sie bei sich zu haben. Es gab Beruhigung.
Man wußte nicht, was noch
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