E.M. Remarque
wissen, daß nie etwas
verloren war, solange man noch lebte.
Ravic kannte die Gefahr. Er wußte, wohin er ging, und er
wußte auch, daß er sich morgen wieder wehren würde – aber in dieser Nacht, in
dieser Stunde der Rückkehr von der Küste eines verlorenen Ararats in den
Blutgeruch der kommenden Zerstörung war plötzlich alles ohne Namen; Gefahr war
Gefahr und doch nicht Gefahr; Schicksal war Opfer und Gottheit, der man
opferte, zugleich. Und das Morgen war eine unbekannte Welt.
Es war alles gut. Das,
was gewesen war, und das, was kam. Es war genug. Wenn es das Ende sein würde,
so war es gut. Er hatte einen Menschen geliebt und ihn verloren. Er hatte einen
andern gehaßt und ihn getötet. Beide hatten ihn befreit. Der eine hatte sein
Gefühl wieder aufbrechen lassen, der andere seine Vergangenheit ausgelöscht. Es
war nichts zurückgeblieben, was unerfüllt war. Es war kein Wunsch mehr da; kein
Haß und keine Klage. Wenn es ein neues Beginnen war, so war es das. Ohne
Erwartung, die gestärkt und nicht zerrissen war, würde man anfangen. Die Aschen
waren ausgeräumt, paralysierte Stellen lebten wieder, aus Zynismus war Stärke
geworden. Es war gut.
Hinter Caën kamen die Pferde. Lange Kolonnen in der
Nacht, Pferde, Pferde, schattenhaft im Mondlicht. Und dann Viererkolonnen,
Männer mit Bündeln, Pappkartons, Paketen. Der Beginn der Mobilisation.
Sie waren fast geräuschlos. Niemand sang. Kaum jemand
sprach. Sie zogen schweigend durch die Nacht, Kolonnen von Schatten, an der
rechten Seite der Straße, um Raum zu lassen für die Wagen.
Ravic passierte eine nach der andern. Pferde, dachte er.
Pferde. Wie 1914. Keine Tanks. Pferde.
Er hielt an einer Benzinstation und ließ den Wagen
nachfüllen. Der kleine Ort hatte noch Licht in den Fenstern, aber er war fast
verstummt. Eine Kolonne zog hindurch. Die Leute starrten ihr nach. Sie winkten
nicht.
»Ich gehe morgen«, sagte der Mann an der Tankstelle. Er
hatte ein klares, bäuerliches, braunes Gesicht. »Mein Vater fiel im letzten
Krieg. Mein Großvater 1871. Ich gehe morgen. Es ist immer dasselbe. Seit ein
paar hundert Jahren machen wir das nun schon. Und es nützt nichts, wir müssen
wieder gehen.«
Er umfaßte mit einem Blick die schäbige Pumpe, das kleine
Haus und die Frau, die schweigend neben ihm stand. »Achtundzwanzig Frank
dreißig, mein Herr.«
Die Landschaft wieder. Der Mond. Lieux. Evreux. Kolonnen.
Pferde. Schweigen. Ravic hielt vor einem kleinen Restaurant. Draußen standen
zwei Tische. Die Wirtin erklärte, sie habe nichts mehr zu essen da. Ein
Abendessen war ein Abendessen, immer noch, trotz allem; und in Frankreich war
ein Omelette mit Käse kein Abendessen. Schließlich ließ er sich doch überzeugen
und hatte auch noch einen Salat dazu und Kaffee und eine Karaffe Vin ordinaire.
Ravic saß allein vor dem rosa Haus und aß. Über den
Wiesen zog der Nebel. Ein paar Frösche quakten. Es war sehr still, nur aus dem
oberen Stockwerk des Hauses klang ein Lautsprecher. Eine Stimme, beruhigend,
zuversichtlich, hoffnungslos und gänzlich überflüssig. Jeder lauschte und
niemand glaubte ihr.
Er zahlte. »Paris wird verdunkelt«, sagte die Wirtin. »Es
war gerade im Radio.«
»Ja. Gegen Flugzeugangriffe. Zur Vorsicht. Im Radio sagen
sie, alles sei nur zur Vorsicht. Es gäbe keinen Krieg. Man sei am Verhandeln.
Was denken Sie?«
»Ich glaube nicht, daß es Krieg gibt.« Ravic wußte nicht,
was er sonst antworten sollte.
»Gott gebe es. Aber was nützt es schon? Die Deutschen
werden Polen nehmen. Dann werden sie Elsaß-Lothringen verlangen. Dann Kolonien.
Dann etwas anderes. Immer mehr, bis wir uns ergeben oder Krieg machen müssen.
Da ist es wohl schon besser, gleich.«
Die Wirtin ging langsam ins Haus zurück. Eine neue
Kolonne kam die
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