E.M. Remarque
eine Russin, dachte er. Kaum saßen sie irgendwo,
noch naß, da begannen sie schon, einem über den Mund zu fahren.
»Sie sind Russin?« fragte er.
»Nein.«
Ravic zahlte und stand auf, um sich zu verabschieden. Im
gleichen Augenblick stand die Frau ebenfalls auf. Sie tat es schweigend und
selbstverständlich. Ravic sah sie unschlüssig an. Gut, dachte er, ich kann es
auch draußen tun.
Es hatte angefangen zu regnen. Ravic blieb vor der Tür
stehen.
»In welche Richtung gehen Sie?« Er war entschlossen, in
die entgegengesetzte Richtung einzubiegen.
»Ich weiß nicht. Irgendwohin.«
»Wo wohnen Sie denn?«
Die Frau machte eine rasche Bewegung. »Dahin kann ich
nicht! Nein! Das kann ich nicht! Nicht dahin!«
Ihre Augen waren plötzlich voll von einer wilden Angst.
Gezankt, dachte Ravic. Irgendeinen Krach gehabt und auf die Straße gelaufen.
Morgen mittag würde sie sich alles überlegt haben und zurückgehen.
»Kennen Sie nicht irgend jemand, zu dem Sie gehen können?
Eine Bekannte? Sie können in der Kneipe telefonieren.«
»Nein. Niemand.«
»Aber Sie müssen doch irgendwohin. Haben Sie kein Geld
für ein Zimmer?«
»Doch.«
»Dann gehen Sie in ein
Hotel. Es gibt hier überall welche in den Seitenstraßen.« Die Frau antwortete
nicht.
»Irgendwohin müssen Sie doch«, sagte Ravic ungeduldig.
»Sie können doch nicht im Regen auf der Straße bleiben.«
Die Frau zog ihren
Regenmantel um sich. »Sie haben recht«, sagte sie, als fasse sie endlich einen
Entschluß. »Sie haben ganz recht. Danke. Kümmern Sie sich nicht mehr um mich.
Ich komme schon irgendwohin. Danke.« Sie nahm den Kragen des Mantels mit einer
Hand zusammen. »Danke für alles.« Sie sah Ravic von unten herauf mit einem
Blick voll Elend an und versuchte ein Lächeln, das ihr mißlang. Dann ging sie
fort durch den nebligen Regen, ohne zu zögern, mit lautlosen Schritten.
Ravic stand einen Augenblick still. »Verdammt!« knurrte
er überrascht und unschlüssig. Er wußte nicht, wie es kam und was es war, das
trostlose Lächeln oder der Blick oder die leere Straße oder die Nacht – er
wußte nur, daß er die Frau, die dort im Nebel plötzlich aussah wie ein
verirrtes Kind, nicht allein lassen würde.
Er folgte ihr. »Kommen Sie mit«, sagte er unfreundlich.
»Etwas wird sich schon finden für Sie.«
Sie erreichten den Etoile. Der Platz lag im rieselnden
Grau mächtig und unendlich vor ihnen. Der Nebel hatte sich verdichtet, und die
Straßen, die rundum abzweigten, waren nicht mehr zu sehen. Nur noch der weite
Platz war da mit den verstreuten, trüben Monden der Laternen und dem steinernen
Bogen des Arc, der sich riesig im Nebel verlor, als stütze er den schwermütigen
Himmel und schütze unter sich die einsame, bleiche Flamme auf dem Grab des
Unbekannten Soldaten, das aussah wie das letzte Grab der Menschheit inmitten von
Nacht und Verlassenheit.
Sie gingen quer über den ganzen Platz. Ravic ging rasch.
Er war zu müde, um zu denken. Er hörte neben sich die tappenden, weichen
Schritte der Frau, die ihm schweigend folgte, den Kopf gesenkt, die Hände in
die Taschen ihres Mantels vergraben, eine kleine, fremde Flamme Leben – und
plötzlich, in der späten Einsamkeit des Platzes, obschon er nichts von ihr
wußte, erschien sie ihm einen Augenblick gerade deshalb seltsam zugehörig zu
ihm. Sie war ihm fremd, so wie er sich selbst überall fremd fühlte, und das
schien ihm auf eine sonderbare Weise näher, als durch viele Worte und die
abschleifende Gewohnheit der Zeit.
Ravic wohnte in einem kleinen Hotel in einer
Seitenstraße der Avenue Wagram, hinter der Place des Ternes. Es war ein ziemlich
baufälliger Kasten, an dem nur eines neu war: das Schild über dem Eingang mit
der Inschrift: »Hotel International.«
Er klingelte. »Habt ihr noch ein Zimmer
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