E.M. Remarque
machen?«
»Schlafen.« – »Aber dann ...«
»Man wird dich schon wecken.«
»Rotes Licht. Es war bestimmt rotes Licht.«
»Bestimmt. Und nun versuche, etwas zu schlafen. Da ist
eine Klingel, wenn du etwas brauchst.«
»Doktor ...«
Ravic drehte sich um.
»Wenn alles klappt …« Jeannot lag in seinen Kissen, und
etwas wie ein Lächeln ging über sein altkluges, verkrampftes Gesicht … »Manchmal
hat man doch Glück, was?«
Der Abend war feucht und warm. Zerrissene Wolken zogen
niedrig über die Stadt. Vor dem Restaurant Fouquet’s waren runde Koksöfen
aufgestellt. Ein paar Tische und Stühle standen darum herum. An einem Morosow.
Er winkte Ravic zu. »Komm, trink was mit mir.«
Ravic setzte sich zu
ihm. »Wir sitzen zuviel in Zimmern«, erklärte Morosow. »Ist dir das schon mal
aufgefallen?«
»Du nicht. Du stehst ja dauernd auf der Straße vor der
Scheherazade.«
»Knabe, laß deine armselige Logik. Ich bin abends eine
Art zweibeiniger Tür zur Scheherazade, aber kein Mensch im Freien. Wir sitzen
zuviel in Zimmern, sage ich. Wir denken zuviel in Zimmern. Wir leben zuviel in
Zimmern. Wir verzweifeln zuviel in Zimmern. Kann man im Freien verzweifeln?«
»Und wie!« sagte Ravic.
»Nur weil man zuviel
in Zimmern lebt. Nicht, wenn man es gewohnt ist. Man verzweifelt anständiger in
einer Landschaft als in einem Zimmer-Appartement mit Küche. Auch komfortabler.
Widersprich nicht! Widerspruch zeigt abendländische Enge des Geistes. Wer will
schon recht haben? Ich habe heute meinen freien Abend und will das Leben
spüren. Wir trinken übrigens auch zuviel in Zimmern.«
»Wir pissen auch zuviel in Zimmern.«
»Bleib mir mit deiner Ironie vom Leibe. Die Fakten des Daseins
sind simpel und trivial. Erst unsere Phantasie gibt ihnen Leben. Sie macht aus
den Wäschepfählen der Tatsachen Flaggenmaste der Träume. Habe ich recht?«
»Nein.«
»Selbstverständlich nicht. Will ich auch gar nicht.«
»Natürlich hast du recht.«
»Gut, Bruder. Wir schlafen auch zuviel in Zimmern. Wir
werden Möbelstücke. Die Steinhäuser haben unser Rückgrat gebrochen. Wir sind
wandelnde Sofas, Toilettentische, Kassenschränke, Mietkontrakte,
Gehaltsempfänger, Kochtöpfe und Wasserklosetts geworden.«
»Richtig. Wandelnde Parteiprogramme, Munitionsfabriken,
Blindenanstalten und Irrenhäuser.«
»Unterbrich mich nicht dauernd. Trink, schweige und lebe,
du Mörder mit dem Skalpell. Sieh, was aus uns geworden ist! Soviel ich weiß,
hatten nur die alten Griechen Götter für das Trinken und die Lebenslust:
Bacchus und Dionysos. Wir haben dafür Freud, Minderwertigkeitskomplexe und die
Psychoanalyse – Angst vor zu großen Worten in der Liebe und viel zu große Worte
in der Politik. Ein trauriges Geschlecht?« Morosow blinzelte.
Ravic blinzelte. »Alter, braver Zyniker mit Träumen«,
sagte er.
Morosow grinste. »Elender Romantiker ohne Illusion – für
eine kurze Zeit auf Erden Ravic genannt.«
»Für eine sehr kurze Zeit. Was Namen anbelangt, ist
dieses bereits mein drittes Leben. Ist das polnischer Wodka?«
»Estnischer. Von Riga. Der beste. Schenk dir ein – und
dann laß uns ruhig hier sitzen und auf die schönste Straße der Welt starren und
diesen milden Abend loben und gelassen der Verzweiflung in die Schnauze
spucken.«
Die Feuer in den Koksöfen knackten. Ein Mann mit einer
Violine stellte sich am Rand des Bürgersteiges auf und begann »Auprès de ma
blonde« zu spielen. Die Vorübergehenden stießen ihn an. Der Bogen kratzte, aber
der Mann spielte weiter, als wäre er allein. Es klang dürr und leer. Die
Violine schien zu frieren. Zwei Marokkaner gingen zwischen den Tischen umher
und boten Teppiche aus greller Kunstseide an.
Die Zeitungsjungen kamen mit den letzten
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