E.M. Remarque
bin
gefährdet, aber nicht gefährlich.«
»Das gehört dazu, daß du das glaubst. Dir wird nie etwas
passieren. Salute!«
»Salute. Aber du verstehst mich nicht.«
»Wer will schon verstehen? Daher kommen alle
Mißverstandnisse der Welt. Gib mir die Flasche herüber.«
»Du trinkst soviel. Wozu willst du so viel trinken?«
»Joan«, sagte Ravic. »Es wird der Tag kommen, da du sagen
wirst: zuviel! Du trinkst zuviel, wirst du sagen und glauben, daß du nur mein
Bestes willst. In Wirklichkeit wirst du nur meine Ausflüge in eine Zone
verhüten wollen, die du nicht kontrollieren kannst. Salute! Wir zelebrieren
heute. Wir sind der Pathetik, die wie eine Wolke drohend vor dem Fenster stand,
glorreich entkommen. Wir haben sie mit der Pathetik totgeschlagen. Salute!«
Er fühlte, wie sie zuckte. Sie richtete sich halb auf,
stützte sich mit den Händen auf den Boden und sah ihn an. Ihre Augen waren weit
geöffnet, der Bademantel war von der Schulter geglitten, das Haar war in den
Nacken geworfen, und sie hatte im Dunkel etwas von einer hellen, sehr jungen
Löwin. »Ich weiß«, sagte sie ruhig. »Du lachst mich aus. Ich weiß es, und ich
mache mir nichts daraus. Ich fühle, daß ich lebe; ich fühle es mit allem, was
ich bin, mein Atem ist anders, und mein Schlaf ist nicht mehr tot, meine
Gelenke haben wieder Sinn, und meine Hände sind nicht mehr leer, und es ist mir
ganz gleich, was du darüber denkst und was du darüber sagst, ich lasse mich
fliegen und lasse mich laufen, und ich werfe mich hin, ohne Gedanken, und ich
bin glücklich und habe weder Vorsicht noch Angst, es zu sagen, auch wenn du
lachst und mich verspottest...«
Ravic schwieg eine Weile. »Ich verspotte dich nicht«,
sagte er dann. »Ich verspotte mich, Joan ...«
Sie lehnte sich an ihn. »Warum? Da ist etwas hinter
deiner Stirn, das nicht will. Warum?«
»Da ist nichts, was nicht will. Ich bin nur langsamer als
du.«
Sie schüttelte den Kopf. »Es ist nicht nur das. Es ist da
etwas, das allein bleiben will. Ich fühle es. Es ist wie eine Barriere.«
»Da ist keine Barriere, da sind nur fünfzehn Jahre mehr
Leben, als du hast. Nicht jedermanns Leben ist ein Haus, das ihm gehört und das
er mit den Möbeln der Erinnerung immer reicher dekoriert. Mancher lebt in
Hotels, in vielen Hotels. Die Jahre klappen hinter ihm zusammen wie Hoteltüren
– und das einzige, was bleibt, ist ein bißchen Courage und kein Bedauern.«
Sie antwortete eine Zeitlang nicht. Er wußte nicht, ob
sie ihm zugehört hatte. Er sah aus dem Fenster und spürte den tiefen Glanz des
Calvados ruhig in seinen Adern. Das Klopfen der Pulse schwieg und wurde zu
einer ausgebreiteten Stille, in der die Maschinengewehre der rastlos
dahintickenden Zeit schwiegen. Der Mond hob sich verschwommen und rot über die
Dächer, wie die Kuppel einer halb in die Wolken verschwundenen Moschee, die
langsam aufstieg, während die Erde im Schneetreiben versank.
»Ich weiß«, sagte Joan, die Hände auf seinen Knien und
ihr Kinn auf die Hände gestützt, »es ist töricht, wenn ich dir diese Dinge von
mir von früher erzähle. Ich könnte schweigen oder könnte lügen, aber ich will
es nicht. Warum soll ich dir nicht alles sagen, was in meinem Leben war, und
warum soll ich mehr daraus machen? Ich will lieber weniger daraus machen, denn
es ist nur noch lächerlich jetzt für mich, und ich verstehe es nicht mehr, und
du sollst lachen darüber und meinetwegen auch über mich.«
Ravic sah sie an. Ihre Knie preßten die großen, weißen
Blüten gegen die Zeitung, die er unter die Chrysanthemen geschoben hatte. Eine
sonderbare Nacht, dachte er. Irgendwo wird jetzt geschossen, und Menschen
werden gejagt und eingesperrt und gequält und gemordet, und ein Stück
friedliche Welt wird zertreten, und man ist da und weiß es und ist hilflos, und
in den hellen Bistros summt es von
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