E.M. Remarque
Ausgaben vorbei.
Morosow kaufte den »Paris Soir« und den »Intransigeant«. Er überflog die
Überschriften und schob dann die Zeitung beiseite. »Falschmünzer«, knurrte er.
»Hast du schon mal bemerkt, wie wir im Zeitalter der Falschmünzer leben?«
»Nein. Ich dachte, wir lebten im Zeitalter der
Konserven.«
»Konserven? Wieso?«
Ravic zeigte auf die Zeitungen. »Wir brauchen nicht mehr
zu denken. Alles ist vorgedacht, vorgekaut, vorgefühlt. Konserven. Nur
aufzumachen. Dreimal am Tage ins Haus geliefert. Nichts mehr selbst zu ziehen,
wachsen zu lassen, auf dem Feuer der Fragen, des Zweifels und der Sehnsucht zu
kochen. Konserven.« Er grinste. »Wir leben nicht leicht, Boris. Nur billig.«
»Wir leben als Falschmünzer.« Morosow hob die Zeitungen
hoch. »Sieh dir das an. Ihre Waffenfabriken bauen sie, weil sie Frieden wollen;
ihre Konzentrationslager, weil sie die Wahrheit lieben; Gerechtigkeit ist der
Deckmantel für jede Parteiraserei; politische Gangster sind Erlöser, und
Freiheit ist das große Wort für alle Gier nach Macht. Falsches Geld! Falsches
geistiges Geld! Die Lüge der Propaganda. Küchenmacchiavellismus. Der Idealismus
in den Händen der Unterwelt. Wenn sie noch wenigstens ehrlich wären …« Er
knüllte die Blätter zusammen und warf sie fort.
»Wir lesen auch zuviel Zeitungen in Zimmern«, sagte
Ravic.
Morosow lachte. »Natürlich. Im Freien braucht man sie, um
Feuer ...«
Er hielt inne. Ravic saß nicht mehr neben ihm. Er war
aufgesprungen und drängte sich durch die Menge vor dem Café in der Richtung zur
Avenue George V.
Morosow saß nur eine Sekunde überrascht da. Dann zog er
Geld aus der Tasche, warf es in einen der Porzellanuntersätze unter den Gläsern
und folgte Ravic. Er wußte nicht, was los war, aber er folgte ihm auf alle
Fälle, um dazusein, wenn er ihn brauchte. Er sah keine Polizei. Auch nicht, daß
ein Zivildetektiv hinter Ravic her war. Der Bürgersteig war gepackt voll von
Menschen. Gut für ihn, dachte Morosow. Wenn ein Polizist ihn wiedererkannt hat,
kann er leicht entwischen. Er sah ihn erst wieder, als er die Avenue George V.
erreichte. Der Verkehr wechselte gerade, und die gestauten Wagenreihen schössen
vorwärts. Ravic versuchte trotzdem, die Straße zu überqueren. Ein Taxi fuhr ihn
fast um. Der Chauffeur tobte. Morosow packte Ravic von hinten am Arm und riß
ihn zurück. »Bist du verrückt?« schrie er. »Willst du Selbstmord begehen? Was
ist los?«
Ravic antwortete nicht. Er starrte zur anderen Seite
hinüber. Der Verkehr war sehr dicht. Wagen schob sich an Wagen, vier Reihen
tief. Es war unmöglich, durchzukommen. Ravic stand am Rande des Trottoirs,
vorgebeugt und starrte hinüber.
Morosow schüttelte ihn. »Was ist los? Polizei?«
»Nein.« Ravic ließ die Augen nicht von den gleitenden
Wagen.
»Was denn? Was denn, Ravic?«
»Haake ...«
»Was?« Morosows Augen verengten sich. »Wie sieht er aus?
– Rasch!«
»Grauer Mantel ...«
Der schrille Pfiff des Verkehrspolizisten kam von der
Mitte der Champs-Elysées her. Ravic stürzte los, zwischen den letzten Wagen
hindurch. Ein dunkelgrauer Mantel – das war alles, was er wußte. Er überquerte
die Avenue George V. und die Rue de Bassano. Es gab plötzlich Dutzende von
grauen Mänteln. Er fluchte und drängte sich weiter, so rasch er konnte. An der
Rue de Galilée war der Verkehr gestoppt. Er überquerte sie eilig und schob sich
rücksichtslos vorwärts durch die Menschenmasse, weiter die Champs-Elysées
entlang. Er kam an die Rue de Presbourg, er lief über die Kreuzung weiter und
stand plötzlich still: Vor ihm lag der Place de l’Etoile, riesig, verwirrend,
voll Verkehr, mit Straßenmündungen nach allen Seiten. Vorbei! Hier war nichts
mehr zu finden.
Er kehrte um, langsam,
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