E.M. Remarque
aufmerksam die Gesichter in der
Menge immer noch beobachtend – aber die Aufregung schlug um. Er fühlte sich
plötzlich leer. Er hatte sich wieder getäuscht – oder Haake war ihm zum
zweitenmal entschlüpft. Aber konnte man sich zweimal täuschen? Konnte jemand
zweimal vom Erdboden verschwinden? Da waren noch die Seitenstraßen. Haake
konnte abgebogen sein. Er blickte die Rue de Presbourg entlang. Wagen, Wagen,
und Menschen, Menschen. Die geschäftigste Stunde des Abends. Es hatte keinen
Zweck, sie noch zu durchsuchen. Wieder zu spät.
»Nichts?« fragte Morosow, der ihm entgegenkam.
Ravic schüttelte den Kopf. »Ich sehe wahrscheinlich
wieder einmal Gespenster.«
»Hast du ihn erkannt?«
»Ich glaubte es. Eben noch. Jetzt … ich weiß überhaupt
nichts mehr.«
Morosow sah ihn an. »Es gibt viele Gesichter, die sich
ähnlich sehen.«
»Ja, und manche, die man nie vergißt.«
Ravic blieb stehen. »Was willst du denn machen?« fragte
Morosow.«
»Ich weiß es nicht. Was soll ich schon machen?«
Morosow starrte auf die Menschenmenge.
»Verdammtes Pech! Gerade um diese Zeit. Geschäftsschluß.
Alles voll...«
»Ja ...«
»Und dazu noch dieses Licht! Halbdunkel. Hast du ihn
genau gesehen?«
Ravic antwortete nicht.
Morosow nahm ihn am Arm. »Hör zu«, sagte er. »Weiter hier
durch die Straßen und Querstraßen zu rennen, hat keinen Zweck mehr. Wenn du in
einer bist, wirst du glauben, er sei gerade in der nächsten. Keine Chance. Laß
uns zurückgehen zu Fouquet’s. Das ist der richtige Platz. Von da kannst du
besser beobachten, als wenn du herumläufst. Wenn er zurückkommen sollte, mußt
du ihn von da sehen.«
Sie setzten sich an einen Tisch, der am Rande stand und
frei nach allen Seiten war. Sie saßen lange da. »Was willst du machen, wenn du
ihn treffen solltest?« fragte Morosow schließlich. »Weißt du das schon?«
Ravic schüttelte den Kopf.
»Denk darüber nach. Besser, du weißt es vorher. Es hat
keinen Zweck, überrascht zu werden und Dummheiten zu machen. Besonders nicht in
deiner Lage. Du willst doch nicht für Jahre ins Gefängnis.«
Ravic sah auf. Er antwortete nicht. Er sah Morosow nur
an.
»Mir wäre es auch egal«, sagte Morosow. »Mit mir. Aber es
ist mir nicht egal mit dir. Was hättest du getan, wenn er es jetzt gewesen wäre
und du ihn erwischt hättest drüben an der Ecke?«
»Ich weiß es nicht, Boris. Ich weiß es wirklich nicht.«
»Du hast nichts bei dir, wie?«
»Nein.«
»Wenn du ihn angefallen hättest, ohne Überlegung, wäret
ihr in einer Minute getrennt gewesen. Du wärest jetzt auf der Polizei, und er
hätte wahrscheinlich nur ein paar blaue Flecken, das weißt du, wie?«
»Ja.« Ravic starrte auf die Straße.
Morosow dachte nach. »Du hättest höchstens versuchen
können, ihn an einer Kreuzung unter die Autos zu stoßen. Aber das wäre auch
unsicher gewesen. Er hätte mit ein paar Schrammen davonkommen können.«
»Ich werde ihn nicht unter ein Auto stoßen.« Ravic
starrte auf die Straße.
»Das weiß ich. Ich werde es auch nicht tun.«
Morosow schwieg eine
Weile. »Ravic«, sagte er dann. »Wenn er es war und wenn du ihn triffst, dann
mußt du todsicher sein, das weißt du? Du hast nur eine einzige Chance.«
»Ja,
das weiß ich.« Ravic starrte weiter auf die Straße.
»Wenn du ihn sehen solltest, folge ihm. Nichts anderes.
Folge ihm nur. Finde heraus, wo er wohnt. Weiter nichts. Alles andere kannst du
später überlegen. Laß dir Zeit. Mach keinen Unsinn, hörst du?«
»Ja«, sagte Ravic abwesend und starrte auf die Straße.
Ein Pistazienverkäufer kam an den Tisch. Ihm folgte ein
Junge mit künstlichen Mäusen. Er ließ sie auf der Marmorplatte tanzen und auf
seinem Ärmel emporlaufen. Der Geigenspieler erschien zum zweitenmal. Er spielte
jetzt »Parlez moi d’amour« und trug einen Hut. Eine alte Frau
Weitere Kostenlose Bücher