E.M. Remarque
zischendes
Geräusch. Die Nacht steht vor dem offenen Fenster. «Wie fühlen Sie sich?» frage
ich Wilke. «Klopft das Jenseits bereits?»
«Halb
und halb. Es ist ja erst halb zwölf. Um die Zeit fühle ich mich, als ginge ich
spazieren mit einem Vollbart in einem ausgeschnittenen Damenkleid.
Unbehaglich.»
«Werden
Sie Monist», schlägt Kurt Bach vor. «Wenn man an nichts glaubt, fühlt man sich
nie besonders schlecht. Auch nicht lächerlich.»
«Auch
nicht gut», sagt Wilke.
«Mag
sein. Aber bestimmt nicht so, als hätte man einen Vollbart und trüge ein
ausgeschnittenes Damenkleid. So fühle ich mich nur, wenn ich nachts aus dem
Fenster sehe, und da ist der Himmel mit den Sternen und den Millionen
Lichtjahren, und ich soll glauben, daß über all dem eine Art Übermensch sitzt,
dem es wichtig sein soll, was aus Kurt Bach wird.»
Der
Sohn der Natur schneidet sich behaglich ein Stück Wurst ab und verzehrt es.
Wilke wird nervöser. Die Mitternacht ist schon zu nahe, und um diese Zeit liebt
er solche Gespräche nicht. «Kalt, was?» sagt er. «Schon Herbst.»
«Lassen
Sie das Fenster nur ruhig offen», erwidere ich, als er es schließlich will. «Es
nützt Ihnen nichts, Geister gehen durch Glas. Blicken Sie lieber auf die Akazie
draußen! Sie ist die Lisa Watzek der Akazien. Hören Sie, wie der Wind in ihr
rauscht! Wie ein Walzer in den seidenen Unterröcken einer jungen Frau. Eines Tages
aber wird sie gefällt werden, und Sie werden Särge daraus machen ...»
«Nicht
aus Akazienholz. Särge macht man aus Eiche, Tanne, Mahagoni furniert ...»
«Gut,
gut, Wilke! Ist noch etwas Schnaps da?»
Kurt
Bach reicht mir die Flasche herüber. Wilke zuckt plötzlich zusammen und hobelt
sich fast einen Finger ab.
«Was
war das?» fragt er erschreckt.
Ein
Käfer ist gegen die Lampe geflogen. «Ruhig Blut, Alfred», sage ich. «Keine
Botschaft aus dem Jenseits. Lediglich ein schlichtes Drama der Tierwelt. Ein
Mistkäfer, der zur Sonne strebt – verkörpert für ihn in einer Hundertwattbirne
im Hinterhaus der Hakenstraße drei.»
Es
ist eine Verabredung, daß wir von kurz vor Mitternacht bis zum Ende der
Geisterstunde Wilke duzen. Er fühlt sich dadurch geschützter. Nach ein Uhr sind
wir wieder formell.
«Ich
verstehe nicht, wie man ohne Religion leben kann», sagt Wilke zu Kurt Bach.
«Was macht man da, wenn man nachts im Dunkeln aufwacht bei einem Gewitter?»
«Im
Sommer?»
«Natürlich,
im Sommer. Im Winter gibt’s keine Gewitter.»
«Man
trinkt etwas Kaltes», erwidert Kurt Bach. «Dann schläft man weiter.»
Wilke
schüttelt den Kopf. Er wird um die Geisterstunde nicht nur ängstlich, sondern
auch sehr religiös.
«Ich
kannte jemand, der beim Gewitter ins Bordell ging», sage ich. «Es zwang ihn direkt
dazu. Er war sonst impotent; nur bei Gewitter änderte sich das. Eine
Gewitterwolke sehen und zum Telefon greifen, um eine Reservation bei Fritzi zu
machen, war eins für ihn. Der Sommer 1920 war sein schönstes Lebensjahr; da
wimmelte es von Gewittern. Manchmal vier, fünf am Tage.»
«Was
macht er jetzt?» fragt Wilke, der Amateur-Wissenschaftler, interessiert.
«Er
ist tot», sage ich. «Gestorben während der letzten großen Gewitter im Oktober
1920.»
Der
Nachtwind wirft eine Tür im Hause gegenüber zu. Von den Türmen schlagen die
Glocken. Es ist Mitternacht. Wilke kippt einen Schnaps herunter.
«Wie
wäre es jetzt mit einem Spaziergang zum Friedhof?» fragt der manchmal etwas
gefühlsrohe Gottesleugner Bach.
Wilkes
Schnurrbart bebt vor Entsetzen im Winde, der durchs Fenster weht. «Und so was
nennt man nun Freunde!» sagt er vorwurfsvoll. Gleich darauf erschrickt er
wieder. «Was war das?»
«Ein
Liebespaar, draußen. Mach jetzt eine Pause im Hobeln, Alfred. Iß! Gespenster
lieben keine Menschen, die essen. Hast du keine Sprotten hier?»
Alfred
wirft mir den
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