E.M. Remarque
Unentschlossenheit. Der Mund wird klein und schmal, und das Kinn
tritt hervor. Sie hat jetzt etwas von einer dünnen, puritanischen, bösen
Jungfer. «Laß nur!» sagt sie. Auch ihre Stimme ist verändert.
«Schön,
lassen wir es. Ich brauche es nicht zu wissen.»
Ich
warte. Ihre Augen glitzern flach, wie nasser Schiefer im letzten Licht. Alles
Grau des Abends scheint sich in ihnen zu sammeln; sie sieht mich überlegen und
spöttisch an. «Das möchtest du wohl, was? Vorbeigelungen, Spion!»
Ich
werde ohne Grund wütend, obschon ich weiß, daß sie krank ist und daß diese
Bewußtseinsbrüche blitzartig kommen. «Geh zum Teufel», sage ich ärgerlich. «Was
geht mich das alles an!»
Ich
sehe, daß ihr Gesicht sich wieder verändert; aber ich gehe rasch hinaus, voll
unbegreiflichen Aufruhrs.
«Und?»
fragt
Wernicke.
«Das
ist alles. Warum haben Sie mich zu ihr hineingeschickt? Es hat nichts
gebessert. Ich tauge nicht zum Krankenpfleger. Sie sehen ja – als ich
vorsichtig mit ihr hätte reden sollen, habe ich sie angeschrien und bin
weggelaufen.»
«Es
war besser, als Sie ahnen.» Wernicke holt hinter seinen Büchern eine Flasche
und zwei Gläser hervor und schenkt ein. «Kognak», sagt er. «Ich möchte nur eins
wissen – woher sie spürt, daß ihre Mutter wieder hier ist.»
«Ihre
Mutter ist hier?»
Wernicke
nickt. «Seit vorgestern. Sie hat sie noch nicht gesehen. Auch nicht vom Fenster
aus.»
«Warum
sollte sie nicht?»
«Sie
müßte dazu weit aus dem Fenster hängen und Augen wie ein Scherenfernrohr
haben.» Wernicke betrachtet die Farbe seines Kognaks. «Aber manchmal spüren
Kranke dieser Art so etwas. Vielleicht hat sie es auch erraten. Ich habe sie in
die Richtung getrieben.»
«Wozu?»
sage ich. «Sie ist kränker, als ich sie je gesehen habe.»
«Nein»,
erwidert Wernicke.
Ich
stelle mein Glas zurück und blicke auf die dicken Bücher seiner Bibliothek.
«Sie ist so elend, daß einem der Magen hochkommt.»
«Elend
schon; aber nicht kränker.»
«Sie
hätten sie in Ruhe lassen sollen – so, wie sie im Sommer war. Sie war
glücklich. Jetzt – das ist entsetzlich.»
«Ja,
es ist entsetzlich», sagt Wemicke. «Es ist fast so, als ob all das wirklich
geschähe, was sie sich einbildet.»
«Sie
sitzt da wie in einer Folterkammer.»
Wernicke
nickt. «Man glaubt draußen immer, so etwas existiere nicht mehr. Es existiert
noch. Hier. Jeder hat seine eigene Folterkammer im Schädel.»
«Nicht
nur hier.»
«Nicht
nur hier», gibt Wernicke bereitwillig zu und nimmt einen Schluck Kognak. «Aber
viele hier haben sie. Wollen Sie sich überzeugen? Nehmen Sie einen weißen
Kittel. Es ist bald Zeit für den Abendrundgang.»
«Nein»,
sage ich. «Ich erinnere mich an das letztemal.»
«Das
war der Krieg, der immer noch hier tobt. Wollen Sie eine andere Abteilung
sehen?»
«Nein.
Ich erinnere mich auch daran.»
«Nicht
an alle, Sie haben nur einige gesehen.»
«Es
waren genug.»
Ich
erinnere mich an die Geschöpfe, die Wochen hindurch in verkrampften Haltungen
erstarrt in Ecken stehen oder ruhelos gegen die Wände rennen, über die Betten
klettern und mit weißen Augen in Zwangsjacken röcheln und schreien. Die
lautlosen Gewitter des Chaos prasseln auf sie hernieder, und Wurm, Klaue,
Schuppe, die schleimige, fußlose, sich windende Vorexistenz, das Kriechen vor
dem Denken, daß Aas-Dasein greifen von unten herauf nach ihren Gedärmen und
Hoden und Rückenwirbeln, um sie herabzuziehen in die graue Zersetzung des
Anfangs, zurück zu Schuppenleibern und augenlosem Würgen – schreiend wie
panikbefallene Affen retten sie sich auf die letzten kahlen Äste ihres Gehirns,
schnatternd, gebannt von dem höhersteigenden Geschlinge, in der letzten
grauenhaften Furcht, nicht des Gehirns, schlimmer, der der Zellen vor
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