E.M. Remarque
dem
Untergang, dem Schrei über allen Schreien, der Angst der Ängste, der
Todesfurcht, nicht des Individuums, sondern der Adern, der Zellen, des Blutes,
der unterbewußten Intelligenzen, die Leber, Drüsen, Kreislauf schweigend
regieren und das Feuer unter dem Schädel.
«Gut»,
sagt Wernicke. «Dann trinken Sie Ihren Kognak. Unterlassen Sie Ihre Ausflüge
ins Unterbewußtsein und loben Sie das Leben.»
«Warum?
Weil alles so wunderbar eingerichtet ist? Weil einer den anderen frißt und dann
sich selbst?»
«Weil
Sie leben, Sie harmloser Klabautermann! Für das Problem des Mitleids sind Sie
noch viel zu jung und unerfahren. Wenn Sie dazu einmal alt genug sein werden,
werden Sie merken, daß es nicht existiert.»
«Ich
habe eine gewisse Erfahrung.»
Wernicke
winkt ab. «Machen Sie sich nicht wichtig, Sie Kriegsteilnehmer! Was Sie wissen,
gehört nicht in das metaphysische Problem des Mitleids – es gehört in die
allgemeine Idiotie der menschlichen Rasse. Das große Mitleid beginnt anderswo –
und es hört auch anderswo auf – jenseits der Klageböcke wie Sie und auch
jenseits der Trosthändler wie Bodendiek ...»
«Gut,
Sie Übermensch», sage ich. «Gibt Ihnen das aber ein Recht, in den Köpfen Ihres
Bezirkes nach Belieben die Hölle, das Fegefeuer oder den phlegmatischen Tod
aufzurühren?»
«Recht
...», erwidert Wernicke mit abgrundtiefer Verachtung. «Wie angenehm ist doch ein
ehrlicher Mörder gegen einen Rechts-Anwalt wie Sie! Was wissen Sie von Recht?
Noch weniger als von Mitleid, Sie scholastischer Sentimentalist!»
Er
hebt sein Glas, grinst und blickt friedlich in den Abend. Das künstliche Licht
im Zimmer wird immer goldener auf den braunen und bunten Rücken der Bücher. Es
erscheint nie so kostbar und so symbolisch wie hier oben, wo die Nacht auch
eine Polarnacht der Gehirne ist. «Weder das eine noch das andere ist im
Weltenplan vorgesehen», sage ich. «Aber ich finde mich nicht damit ab, und wenn
das für Sie menschliche Unzulänglichkeit bedeutet, so will ich gerne mein Leben
lang so bleiben.»
Wernicke
erhebt sich, nimmt seinen Hut vom Haken, setzt ihn auf, grüßt mich, indem er
ihn abnimmt, hängt ihn dann zurück an den Haken und setzt sich wieder. «Es lebe
das Gute und Schöne!» sagt er. «Das eben meinte ich. Und nun hinaus mit Ihnen!
Es ist Zeit für die Abendrunde.»
«Können
Sie Geneviève Terhoven kein Schlafmittel geben?» frage ich.
«Das
kann ich; aber das heilt sie nicht.»
«Warum
geben Sie ihr nicht wenigstens heute etwas Ruhe?»
«Ich
gebe ihr Ruhe. Und ich werde ihr auch ein Schlafmittel geben.» Er zwinkerte mir
zu. «Sie waren heute besser als ein ganzes Kollegium von Ärzten. Besten Dank.»
Ich
sehe ihn unentschlossen an. Zur Hölle mit seinen Aufträgen, denke ich. Zur
Hölle mit seinem Kognak! Und zur Hölle mit seinen gottähnlichen Redensarten!
«Ein kräftiges Schlafmittel», sage ich.
«Das
beste, was es gibt. Waren Sie jemals im Orient? China?»
«Wie
sollte ich nach China kommen?»
«Ich
war dort», sagt Wernicke. «Vor dem Kriege. Zur Zeit der Überschwemmungen und
der Hungersnöte.»
«Ja»,
sage ich. «Ich kann mir denken, was jetzt kommt, und ich will es nicht hören.
Ich habe genug darüber gelesen. Gehen Sie gleich zu Geneviève Terhoven? Als
erstes?»
«Als
erstes. Und ich lasse sie in Ruhe.» Wernicke lächelt. «Dafür werde ich jetzt
ihre Mutter einmal etwas aus der Ruhe bringen.»
«Was
willst
du, Otto?» frage ich. «Ich habe heute keine Lust, über das Versmaß der Ode zu
diskutieren! Geh zu Eduard!»
Wir
sitzen im Zimmer des Dichterklubs. Ich bin hingegangen, um an etwas anderes zu
denken als an Isabelle; aber plötzlich widert mich alles hier an. Wozu das
Reimgeklingel? Die Welt dampft von Angst und Blut. Ich weiß, daß das
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