E.M. Remarque
Jammertal nicht ertragen. Er
ist rund und voll und hat die Schöße seines Priesterrocks über die Lehne des
Stuhls gebreitet, damit sie nicht zerknittern unter dem Druck seines kräftigen
Hinterns. So sitzt er da, der Kenner des Jenseits und des Weines, das Glas fest
in der Hand.
«Wozu
hat Gott eigentlich das irdische Jammertal geschaffen?» wiederhole ich. «Hätte
er uns nicht gleich im ewigen Leben lassen können?»
Bodendiek
hebt die Schultern. «Sie können das in der Bibel nachlesen. Der Mensch, das
Paradies, der Sündenfall ...»
«Der
Sündenfall, die Vertreibung aus dem Paradiese, die Erbsünde und damit der Fluch
über hunderttausend Generationen. Der Gott der längsten Rache, die es je
gegeben hat.»
«Der
Gott der Vergebung», erwidert Bodendiek und hält den Wein gegen das Licht. «Der
Gott der Liebe und der Gerechtigkeit, der immer wieder bereit ist, zu vergeben,
und der seinen eigenen Sohn geopfert hat, um die Menschheit zu erlösen.»
«Herr
Vikar Bodendiek», sagte ich, plötzlich sehr wütend. «Weshalb hat der Gott der
Liebe und der Gerechtigkeit eigentlich die Menschen so verschieden erschaffen?
Warum den einen elend und krank und den andern gesund und gemein?»
«Wer
hier erniedrigt wird, wird im Jenseits erhöht. Gott ist die ausgleichende
Gerechtigkeit.»
«Ich
bin nicht so sicher», erwidere ich. «Ich kannte eine Frau, die zehn Jahre Krebs
hatte, die sechs fürchterliche Operationen hinter sich brachte, die nie ohne
Schmerzen war und die schließlich an Gott verzweifelte, als zwei ihrer Kinder
starben. Sie ging nicht mehr zur Messe, zur Beichte und zur Kommunion, und nach
den Regeln der Kirche starb sie im Stande der Todsünde. Nach denselben Regeln
brennt sie jetzt für alle Ewigkeit in der Hölle, die der Gott der Liebe
geschaffen hat. Das ist gerecht, nicht wahr?»
Bodendiek
sieht eine Zeitlang in den Wein. «Ist es Ihre Mutter?» fragt er dann.
Ich
starre ihn an. «Was hat das damit zu tun?»
«Es
ist Ihre Mutter, nicht wahr?»
Ich
schlucke. «Und wenn es meine Mutter wäre ...»
Er
schweigt. «Es genügt eine einzige Sekunde, um sich mit Gott zu versöhnen», sagt
er dann behutsam. «Eine Sekunde vor dem Tode. Ein einziger Gedanke. Er braucht
nicht einmal ausgesprochen zu werden.»
«Das
habe ich vor ein paar Tagen einer verzweifelten Frau auch gesagt. Aber wenn der
Gedanke nicht da war?»
Bodendiek
sieht mich an. «Die Kirche hat Regeln. Sie hat Regeln, um zu verhüten und zu
erziehen. Gott hat keine. Gott ist die Liebe. Wer von uns kann wissen, wie er
richtet?»
«Richtet
er?»
«Wir
nennen es so. Es ist Liebe.»
«Liebe»,
sage ich bitter. «Eine Liebe, die voll Sadismus ist. Eine Liebe, die quält und
elend macht und die entsetzliche Ungerechtigkeit der Welt mit dem Versprechen
eines imaginären Himmels zu korrigieren glaubt.»
Bodendiek
lächelt. «Glauben Sie nicht, daß vor Ihnen schon andere Leute darüber
nachgedacht haben?»
«Ja,
unzählige. Und klügere als ich.»
«Das
glaube ich auch», erwidert Bodendiek gemütlich.
«Das
ändert nichts daran, daß ich es nicht auch tue.»
«Bestimmt
nicht.» Bodendiek schenkt sein Glas voll. «Tun Sie es nur gründlich. Zweifel
ist die Kehrseite des Glaubens.»
Ich
sehe ihn an. Er sitzt da, ein Turm der Festigkeit, und nichts kann ihn
erschüttern. Hinter seinem kräftigen Kopf steht die Nacht, die unruhige Nacht
Isabelles, die weht und gegen das Fenster stößt und endlos und voller Fragen
ohne Antwort ist. Bodendiek aber hat auf alles eine Antwort.
Die Tür öffnet sich.
Auf einer großen Platte erscheint das Essen, in runden Schüsseln, die
aufeinandergestellt sind. Eine paßt in die andere, es ist die Art, wie in
Hospitälern serviert wird. Die Küchenschwester breitet ein Tuch über den Tisch,
legt Messer, Löffel und Gabeln darauf
Weitere Kostenlose Bücher