E.M. Remarque
und verschwindet.
Bodendiek
lüftet die obere Schüssel. «Was haben wir denn heute nacht? Bouillon», sagt er
zärtlich. «Bouillon mit Markklößchen. Erstklassig! Und Rotkohl mit Sauerbraten.
Eine Offenbarung!»
Er
schöpft die Teller voll und beginnt zu essen. Ich ärgere mich darüber, mit ihm
disputiert zu haben, und fühle, daß er klar überlegen ist, obschon es nichts
mit dem Problem zu tun hat. Er ist überlegen, weil er nichts sucht. Er weiß.
Aber was weiß er schon? Beweisen kann er nichts. Trotzdem kann er mit mir
spielen, wie er will.
Der
Arzt kommt herein. Es ist nicht der Direktor; es ist der behandelnde Arzt.
«Essen Sie mit uns?» fragt Bodendiek. «Dann müssen Sie sich dazuhalten. Wir
lassen sonst nichts übrig.»
Der
Arzt schüttelt den Kopf. «Ich habe keine Zeit. Es gibt ein Gewitter. Da sind
die Kranken immer besonders unruhig.»
«Es
sieht nicht nach einem Gewitter aus.»
«Noch
nicht. Aber es wird kommen. Die Kranken fühlen das voraus. Wir, mußten schon
ein paar ins Dauerbad legen. Es wird eine schwierige Nacht werden.»
Bodendiek
verteilt den Sauerbraten zwischen uns. Er nimmt sich die größere Portion. «Gut,
Doktor», sagt er.
«Aber
trinken Sie wenigstens ein Glas Wein mit uns. Es ist ein Fünfzehner. Eine Gabe
Gottes! Sogar für unseren jungen Heiden hier.»
Er
zwinkert mir zu, und ich möchte ihm gern meine Sauerbratensauce in seinen
leicht speckigen Kragen schütten. Der Doktor setzt sich zu uns und nimmt das
Glas an. Die bleiche Schwester steckt den Kopf durch die Tür.
«Ich
esse jetzt nicht, Schwester», sagt der Doktor. «Stellen Sie mir ein paar
belegte Brote und eine Flasche Bier in mein Zimmer.»
Er
ist ein Mann von etwa fünfunddreißig Jahren, dunkel, mit einem schmalen
Gesicht, dicht zusammenstehenden Augen und großen, abstehenden Ohren. Er heißt
Wernicke, Guido Wernicke, und haßt seinen Vornamen so, wie ich «Rolf» hasse.
«Wie
steht’s mit Fräulein Terhoven?» frage ich.
«Terhoven?
Ach so – nicht so besonders, leider. Haben Sie nichts bemerkt heute? Eine
Änderung?»
«Nein.
Sie war so wie immer. Vielleicht etwas erregter; aber Sie sagten ja, das käme
vom Gewitter.»
«Wir
werden sehen. Man kann nie viel voraussagen hier oben.»
Bodendiek
lacht. «Das sicher nicht. Hier nicht.»
Ich
sehe ihn an. Was für ein roher Christ, denke ich. Aber dann fällt mir ein, daß
er ja berufsmäßiger Seelenpfleger ist; dabei geht immer etwas an Empfindung auf
Kosten des Könnens verloren – ebenso wie bei Ärzten, Krankenschwestern und
Grabsteinverkäufern.
Ich
höre, wie er sich mit Wernicke unterhält. Ich habe plötzlich keine Lust mehr zu
essen und stehe auf und gehe ans Fenster. Hinter den bewegten schwarzen Wipfeln
ist eine Wolkenwand mit fahlen Rändern emporgewachsen. Ich starre hinaus. Alles
scheint auf einmal sehr fremd, und hinter dem vertrauten Gartenbild drängt ein
anderes, wilderes schweigend hervor, das das alte wegstößt wie eine leere
Hülse. Ich erinnere mich an Isabelles Schrei: «Wo ist mein erstes Gesicht? Mein
Gesicht vor allen Spiegeln?» Ja, wo ist das allererste Gesicht? denke ich. Die
Urlandschaft, bevor sie zur Landschaft unserer Sinne wurde, zu Park und Wald
und Haus und Mensch – wo ist das Gesicht Bodendieks, bevor es Bodendiek wurde,
wo das Wernickes, bevor es seinem Namen entsprach? Wissen wir noch etwas davon?
Oder sind wir gefangen in einem Netz von Begriffen und Worten, von Logik und
täuschender Vernunft, und dahinter stehen die einsam lodernden Urfeuer, zu
denen wir keinen Zugang mehr haben, weil wir sie in Nützlichkeit und Wärme
verwandelt haben, in Küchenfeuer und Heizung und Schwindel und Gewißheit und
Bürgerlichkeit und Mauern und allenfalls in ein türkisches Bad schwitzender
Philosophie und Wissenschaft? Wo
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