E.M. Remarque
da
krank?
Ich
trete an den Tisch und trinke mein Glas aus. Bodendiek betrachtet mich
wohlwollend; Wernicke so, wie man einen völlig uninteressanten Fall ansieht.
Ich fühle zum erstenmal den Wein; ich fühle, daß er gut ist, in sich geschlossen,
gereift und nicht lose. Er hat kein Chaos mehr in sich, denke ich. Er hat es
verwandelt. Verwandelt in Harmonie. Aber verwandelt, nicht ersetzt. Er ist ihm
nicht ausgewichen. Ich bin plötzlich, eine Sekunde lang, ohne Grund unsagbar
glücklich. Man kann das also, denke ich. Man kann es verwandeln! Es ist nicht
nur eins oder das andere. Es kann auch eins durch das andere sein.
Ein
neuer blasser Schein wirft sich gegen das Fenster und erlischt. Der Doktor
erhebt sich. «Es geht los. Ich muß zu den Geschlossenen hinüber.»
Die
Geschlossenen sind die Kranken, die nie herauskommen. Sie bleiben
eingeschlossen, bis sie sterben, in Zimmern mit festgeschraubten Möbeln, mit
vergitterten Fenstern und mit Türen, die man nur von außen mit Schlüsseln
öffnen kann. Sie sind in Käfigen wie gefährliche Raubtiere, und niemand spricht
gerne von ihnen.
Wernicke
sieht mich an. «Was ist mit Ihrer Lippe los?»
«Nichts.
Ich habe mich im Traum gebissen.»
Bodendiek
lacht. Die Tür öffnet sich, und die kleine Schwester bringt eine neue Flasche
Wein herein, mit drei Gläsern dazu. Wernicke verläßt mit der Schwester das
Zimmer. Bodendiek greift nach der Flasche und schenkt sich ein. Ich verstehe
jetzt, warum er Wernicke angeboten hat, mit uns zu trinken; die Oberin hat
daraufhin die neue Flasche geschickt. Eine allein wäre nicht genug für drei
Männer. Dieser Schlauberger, denke ich. Er hat das Wunder der Speisung bei der
Bergpredigt wiederholt. Aus einem Glas für Wernicke hat er eine ganze Flasche
für sich gemacht. «Sie trinken wohl nicht mehr, wie?» fragt er.
«Doch!»
erwidere ich und setze mich. «Ich bin auf den Geschmack gekommen. Sie haben ihn
mir beigebracht. Danke herzlich.»
Bodendiek
zieht mit einem sauersüßen Lächeln die Flasche wieder aus dem Eis. Er
betrachtet das Etikett einen Augenblick, ehe er mir eingießt – ein viertel
Glas. Sein eigenes schenkt er fast bis zum Rande voll. Ich nehme ihm ruhig die
Flasche aus der Hand und gieße mein Glas nach, bis es ebenso gefüllt ist wie
seines. «Herr Vikar», sage ich. «In manchen Dingen sind wir gar nicht so
verschieden.»
Bodendiek
lacht plötzlich. Sein Gesicht entfaltet sich wie eine Pfingstrose. «Zum Wohle»,
sagt er salbungsvoll.
Das Gewitter murrt und
zieht hin und her. Wie lautlose Säbelhiebe fallen die Blitze. Ich sitze am
Fenster meines Zimmers, die Fetzen aller Briefe Ernas vor mir in einem
ausgehöhlten Elefantenfuß, den mir der Weltreisende Hans Ledermann, der Sohn
des Schneidermeisters Ledermann, vor einem Jahr als Papierkorb geschenkt hat.
Ich
bin fertig mit Erna. Ich habe mir alle ihre unangenehmen Eigenschaften
aufgezählt; ich habe sie emotionell und menschlich in mir vernichtet und als
Dessert ein paar Kapitel Schopenhauer und Nietzsche gelesen. Aber trotzdem
möchte ich lieber, daß ich einen Smoking hätte, ein Auto und einen Chauffeur,
und daß ich, begleitet von zwei bis drei bekannten Schauspielerinnen, einige
Hundert Millionen in der Tasche, jetzt in der Roten Mühle auftauchen könnte, um
der Schlange dort den Schlag ihres Lebens zu versetzen. Ich träume eine
Zeitlang davon, wie es wäre, wenn sie morgen in der Zeitung lesen würde, ich
hätte das große Los gewonnen oder wäre schwer verletzt worden, während ich
Kinder aus brennenden Häusern gerettet hätte. Dann sehe ich Licht in Lisas
Zimmer.
Sie
öffnet es und macht Zeichen. Mein Zimmer ist dunkel, sie kann mich nicht sehen;
also meint sie nicht mich. Sie sagt lautlos etwas, zeigt auf ihre Brust und
dann auf unser Haus, und nickt.
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