E.M. Remarque
Gesicht ist weich, ich fühle die
schmalen Knochen, das Kinn und den Bogen der Stirn, und plötzlich bin ich
wieder tief verwundert darüber, daß hinter diesem engen Halbkreis eine Welt mit
völlig anderen Gesetzen lebt, und daß dieser Kopf, den ich mit meinen Händen
mühelos umspanne, alles anders sieht als ich, jeden Baum, jeden Stern, jede
Beziehung und auch sich selbst. Ein anderes Universum ist in ihm beschlossen,
und einen Augenblick lang schwimmt alles durcheinander, und ich weiß nicht mehr,
was Wirklichkeit ist – das, was ich sehe, oder das, was sie sieht, oder das,
was ohne uns da ist und was wir nie erkennen können, da es mit ihm so ist, wie
mit den Spiegeln, die da sind, wenn wir da sind, und die doch immer nichts
anderes spiegeln als unser eigenes Bild. Nie, nie wissen wir, was sie sind,
wenn sie allein sind, und was hinter ihnen ist; sie sind nichts, und doch
können sie spiegeln und müssen etwas sein; aber niemals geben sie ihr Geheimnis
preis.
«Komm»,
sage ich. «Komm, Isabelle. Keiner weiß, was er ist und wo und wohin er geht –
aber wir sind zusammen, das ist alles, was wir wissen können.»
Ich
ziehe sie mit mir. Vielleicht gibt es wirklich nichts anderes, wenn alles
zerfällt, denke ich, als das bißchen Beieinandersein, und auch das ist noch ein
sanfter Betrug, denn da, wo der andere einen wirklich braucht, kann man ihm
nicht folgen und ihm nicht beistehen, das habe ich oft genug gesehen, wenn ich
im Kriege in die toten Gesichter meiner Kameraden geblickt habe. Jeder hat
seinen eigenen Tod und muß ihn allein sterben, und niemand kann ihm dabei
helfen.
«Du
läßt mich nicht allein?» flüstert sie.
«Ich
lasse dich nicht allein.»
«Schwöre
es», sagt sie und bleibt stehen.
«Ich
schwöre es», erwidere ich unbedenklich.
«Gut,
Rudolf.»
Sie
seufzt, als wäre jetzt vieles leichter.
«Aber
vergiß es nicht. Du vergißt so oft.»
«Ich
werde es nicht vergessen.»
«Küsse
mich.»
Ich
ziehe sie an mich. Ich fühle ein sehr leichtes Grauen und weiß nicht, was ich
tun soll, und küsse sie mit trockenen, geschlossenen Lippen.
Sie
hebt ihre Hände um meinen Kopf und hält ihn. Plötzlich spüre ich einen scharfen
Biß und stoße sie zurück. Meine Unterlippe blutet. Sie hat hineingebissen. Ich
starre sie an. Sie lächelt. Ihr Gesicht ist verändert. Es ist böse und schlau.
«Blut!» sagt sie leise und triumphierend. «Du wolltest mich wieder betrügen,
ich kenne dich! Aber jetzt kannst du es nicht mehr. Es ist besiegelt. Du kannst
nicht mehr weg!»
«Ich
kann nicht mehr weg», sage ich ernüchtert. «Meinetwegen! Darum brauchst du mich
aber doch nicht wie eine Katze anzufallen. Wie das blutet! Was soll ich der
Oberin sagen, wenn sie mich so sieht?»
Isabelle
lacht. «Nichts», erwidert sie. «Warum mußt du immer etwas sagen? Sei doch nicht
so feige!»
Ich
spüre das Blut lau in meinem Munde. Mein Taschentuch hat keinen Zweck – die
Wunde muß sich von selbst schließen. Geneviève steht vor mir. Sie ist plötzlich
Jenny. Ihr Mund ist klein und häßlich, und sie lächelt schlau und boshaft. Dann
beginnen die Glocken für die Maiandacht. Eine Pflegerin kommt den Weg entlang.
Ihr weißer Mantel schimmert ungewiß im Zwielicht.
Meine Wunde ist während
der Andacht getrocknet, ich habe meine tausend Mark empfangen und sitze jetzt
mit dem Vikar Bodendiek am Tisch. Bodendiek hat seine seidenen Gewänder in der
kleinen Sakristei abgelegt. Vor fünfzehn Minuten war er noch eine mystische
Figur –, weihrauchumdampft stand er in Brokat und Kerzenlicht da und hob die
goldene Monstranz mit dem Leib Christi in der Hostie über die Köpfe der frommen
Schwestern und die Schädel der Irren, die Erlaubnis haben, bei der Andacht
dabeizusein – jetzt aber, im schwarzen abgeschabten Rock und dem leicht
verschwitzten weißen Kragen, der hinten statt vorne geschlossen
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