E.M. Remarque
sind sie? Stehen sie immer noch unfaßbar und
rein und unzugänglich hinter Leben und Tod, bevor sie Leben und Tod für uns
wurden, und sind vielleicht nur die, die jetzt in diesem Hause in ihren
vergitterten Zimmern hocken und schleichen und starren und das Gewitter in
ihrem Blut fühlen, ihnen nahe? Wo ist die Grenze, die Chaos von Ordnung
scheidet, und wer kann sie überschreiten und zurückkommen, und wenn es ihm
gelingt, wer weiß dann noch etwas davon? Löscht das eine nicht die Erinnerung
an das andere aus? Wer ist der Gestörte, Gezeichnete, Verbannte, sind wir es
mit unseren Grenzen, mit unserer Vernunft, unserem geordneten Weltbild, oder
sind es die andern, durch die das Chaos rast und blitzt, und die dem
Grenzenlosen preisgegeben sind wie Zimmer ohne Türen, ohne Decke, Räume mit
drei Wanden, in die es hineinblitzt und stürmt und regnet, während wir andern
stolz in unsern geschlossenen Zimmern mit Türen und vier Wänden umhergehen und
glauben, wir seien überlegen, weil wir dem Chaos entkommen sind? Aber was ist
Chaos? Und was Ordnung? Und wer hat sie? Und warum? Und wer entkommt je?
Ein
fahles Leuchten fliegt über dem Parkrand hoch, und nach langer Zeit antwortet
ein sehr schwaches Murren. Wie eine Kabine voll Licht scheint unser Zimmer zu
schwimmen in der Nacht, die unheimlich wird, als rüttelten irgendwo gefangene
Riesen an ihren Ketten, um aufzuspringen und das Geschlecht der Zwerge zu
vernichten, das sie für kurze Zeit gefesselt hat. Eine Kabine mit Licht in der
Dunkelheit, Bücher und drei geordnete Gehirne in einem Hause, in dem wie in den
Waben eines Bienenkorbes das Unheimliche eingesperrt ist, wetterleuchtend in
den zerstörten Gehirnen ringsum! Wie, wenn in einer Sekunde ein Blitz der
Erkenntnis durch alle schlüge und sie sich zusammenfänden in einer Revolte,
wenn sie die Schlösser brächen, die Stangen zersprengten, und wie eine graue
Woge die Treppe hinaufschäumten und das erleuchtete Zimmer, diese Kabine
begrenzten, festen Geistes wegschwemmten in die Nacht und in das, was ohne
Namen mächtiger hinter der Nacht steht?
Ich
drehe mich um. Der Mann des Glaubens und der Mann der Wissenschaft sitzen unter
dem Licht, das sie bescheint. Die Welt ist keine vage, zitternde Unruhe für
sie, kein Murren aus Tiefen, kein Wetterleuchten in eisigen Ätherräumen – sie
sind Männer des Glaubens und der Wissenschaft, sie haben Senkblei und Lot und
Waage und Maß, jeder ein anderes, aber das ficht sie nicht an, sie sind sicher,
sie haben Namen, die sie wie Etiketten auf alles kleben können, sie schlafen
gut, sie haben einen Zweck, das genügt ihnen, und selbst das Grauen, der
schwarze Vorhang vor dem Selbstmord, hat seinen wohlgeordneten Platz in ihrem
Dasein, es hat einen Namen und ist klassifiziert und damit ungefährlich
geworden. Nur das Namenlose tötet, oder das, was seinen Namen gesprengt hat.
«Es
blitzt», sage ich.
Der
Doktor sieht auf. «Tatsächlich!»
Er
erörtert gerade das Wesen der Schizophrenie, der Krankheit Isabelles. Sein
dunkles Gesicht ist von Eifer leicht gerötet. Er erklärt, wie Kranke dieser Art
blitzartig, in Sekunden, von einer Persönlichkeit in die andere springen, und
daß man sie in alten Zeiten als Seher und Heilige bezeichnet habe und in
anderen als vom Teufel Besessene, vor denen das Volk abergläubischen Respekt
hatte. Er philosophiert über die Gründe, und ich wundere mich plötzlich, woher
er das alles weiß und warum er es als Krankheit bezeichnet. Könnte man es nicht
ebensogut als einen besonderen Reichtum ansehen? Hat nicht jeder normale Mensch
auch ein Dutzend Persönlichkeiten in sich? Und ist der Unterschied nicht nur
der, daß der Gesunde sie unterdrückt und der Kranke sie freiläßt? Wer ist
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