E.M. Remarque
Tagsüber ist man zu diesen Dingen bedeutend weniger aufgelegt als
nachts, allein, wenn einem nichts anderes übrigbleibt.
Ich
gehe zu den Regalen mit den Werken über Religion und Philosophie. Sie sind
Arthur Bauers Stolz. Er hat hier so ziemlich alles, was die Menschheit in ein
paar tausend Jahren über den Sinn des Lebens zusammengedacht hat. Es müßte also
möglich sein, für ein paar hunderttausend Mark ausreichend darüber informiert
zu werden – eigentlich bereits für weniger, sagen wir für zwanzig- bis
dreißigtausend Mark; denn wenn der Sinn des Lebens erkennbar wäre, sollte schon
ein einziges Buch dazu genügen. Aber wo ist es? Ich blicke die Reihen hinauf
und hinab. Die Abteilung ist sehr umfangreich, und das macht mich plötzlich
stutzig. Es scheint mit der Wahrheit und dem Sinn des Lebens so zu sein, wie
mit den Haarwässern – jede Firma preist ihres als das alleinseligmachende an –
aber Georg Kroll, der sie alle probiert hat, hat trotzdem einen kahlen Kopf
behalten, und er hätte es von Anfang an wissen sollen. Wenn es ein Haarwasser
gäbe, das wirklich Haar wachsen ließe, gäbe es nur das eine, und die anderen
wären längst pleite.
Bauer
kommt zurück. «Na, was gefunden?»
«Nein.»
Er
betrachtet die beiseite geschobenen Bände. «Also Fakir hat keinen Zweck, was?»
Ich
weise den schlichten Witzbold nicht direkt zurecht.
«Bücher
haben überhaupt keinen Zweck», sage ich statt dessen. «Wenn man sieht, was hier
alles geschrieben ist und wie es trotzdem in der Welt aussieht, sollte man nur
noch die Speisekarte, im Walhalla und die Familiennachrichten im Tageblatt
lesen.»
«Wieso?»
fragt der Buchhändler, Gatte und Vater leicht erschreckt. «Lesen bildet, das
weiß jeder.»
«Wirklich?»
«Natürlich!
Wo blieben sonst wir Buchhändler?»
Arthur
saust wieder davon. Ein Mann mit kurzgestutztem Schnurrbart verlangt das Werk «Im
Felde unbesiegt».
Es
ist der große Schlager der Nachkriegszeit. Ein arbeitsloser General beweist
darin, daß das deutsche Heer im Kriege bis zum Ende siegreich war.
Arthur
verkauft die Geschenkausgabe in Leder mit Goldschnitt. Besänftigt durch das
gute Geschäft kommt er zurück. «Wie wär’s mit etwas Klassischem? Antiquarisch
natürlich!»
Ich
schüttle den Kopf und zeige wortlos ein Buch vor, das ich inzwischen auf dem
Auslagetisch gefunden habe. Es ist «Der Mann von Welt», ein Brevier für gute
Manieren in allen Lebenslagen. Geduldig erwarte ich die unumgänglichen schalen
Witze über Fakir-Kavaliere und so ähnliches. Aber Arthur witzelt nicht.
«Nützliches Buch», erklärt er sachlich. «Sollte in Massenauflage erscheinen.
Also gut, dann sind wir quitt, was?»
«Noch
nicht. Ich habe noch etwas zugut.» Ich hebe einen dünnen Band hoch. «Das
Gastmahl» von Plato. «Das kommt noch dazu.»
Arthur
rechnet im Kopf. «Stimmt nicht ganz, aber meinetwegen. Rechnen wir ,Das
Gastmahl‘ antiquarisch.»
Ich
lasse mir das Brevier für gute Manieren in Papier einschlagen und mit Bindfaden
verknoten. Ich möchte um nichts in der Welt damit von jemand erwischt werden.
Trotzdem beschließe ich, es heute abend zu studieren. Etwas Schliff kann
niemand schaden, und Ernas Beschimpfungen sitzen mir noch in den Knochen. Der
Krieg hat uns ziemlich verwildert, und flegelige Manieren kann man sich heute
nur noch leisten, wenn eine dicke Brieftasche sie zudeckt. Die aber habe ich
nicht.
Zufrieden
trete ich auf die Straße. Lärmend dringt draußen das Dasein sofort auf mich
ein. In einem brandroten Kabriolett saust Willy an mir vorüber, ohne mich zu
sehen. Ich presse das Brevier für Weltleute fest unter den Arm. Rein ins Leben!
denke ich. Hoch die irdische Liebe! Fort mit den Träumen! Fort mit den
Gespenstern! Das gilt für Erna
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