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E.M. Remarque

E.M. Remarque

Titel: E.M. Remarque Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Der schwarze Obelisk
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mit der
Haut. Die Na­tur­wis­sen­schaft weiß Hun­der­te sol­cher Bei­spie­le. Wie kön­nen wir da
ir­gend et­was be­stimmt wis­sen? Ei­ne Aus­wei­tung ei­nes Or­gans oder die Ent­wick­lung
ei­nes neu­en – und die Welt ver­än­dert sich, und der Gott­be­griff ver­än­dert sich.
Prost!»
    Ich
he­be mein Glas und trin­ke. Der Mo­sel ist her­be und er­dig. «Es ist al­so bes­ser,
zu war­ten, bis wir einen sechs­ten Sinn ha­ben, was?» sa­ge ich.
    «Nicht
nö­tig. Sie kön­nen tun, was Sie wol­len. Aber es ist gut zu wis­sen, daß ein Sinn
mehr al­le Schlüs­se über den Hau­fen wer­fen wür­de. Tie­ri­scher Ernst schwin­det
da­vor da­hin. Wie ist der Wein?»
    «Gut.
Wie ist es mit Fräu­lein Ter­ho­ven? Bes­ser?»
    «Schlech­ter.
Ih­re Mut­ter war hier – sie hat sie nicht er­kannt.»
    «Viel­leicht
hat sie es nicht ge­wollt.»
    «Das
ist fast das­sel­be; sie hat sie nicht er­kannt. Sie hat sie an­ge­schri­en,
weg­zu­ge­hen. Ty­pi­scher Fall.»
    «Warum?»
    «Wol­len
Sie einen lan­gen Vor­trag über Schi­zo­phre­nie, El­tern­kom­plex, Flucht vor sich
selbst und Schock­wir­kung hö­ren?»
    «Ja»,
sa­ge ich. «Heu­te ja.»
    «Sie
wer­den ihn nicht hö­ren. Nur das Nö­tigs­te. Spalt­per­sön­lich­keit ist ge­wöhn­lich
Flucht vor sich selbst.»
    «Was
ist man selbst?»
    Wer­ni­cke
sieht mich an. «Las­sen wir das heu­te. Flucht in ei­ne an­de­re Per­sön­lich­keit.
Oder in meh­re­re. Meis­tens springt der Pa­ti­ent zwi­schen­durch im­mer wie­der für
kur­ze oder län­ge­re Zeit in sei­ne ei­ge­ne zu­rück. Ge­ne­vié­ve nicht. Seit lan­gem
nicht mehr. Sie zum Bei­spiel ken­nen sie gar nicht so, wie sie wirk­lich ist.»
    «Sie
wirkt ganz ver­nünf­tig, so wie sie jetzt ist.»
    Wer­ni­cke
lacht. «Was ist Ver­nunft? Lo­gi­sches Den­ken?»
    Ich
den­ke an die kom­men­den zwei neu­en Sin­ne und ant­wor­te nicht. «Ist sie sehr
krank?» fra­ge ich.
    «Nach
un­se­ren Be­grif­fen, ja. Aber es gibt schnel­le und oft über­ra­schen­de Hei­lun­gen.»
    «Hei­lun­gen
– wo­von?»
    «Von
ih­rer Krank­heit.» Wer­ni­cke zün­det sich ei­ne Zi­ga­ret­te an.
    «Sie
ist oft ganz glück­lich. Warum las­sen Sie sie nicht so, wie sie ist?»
    «Weil
ih­re Mut­ter für die Be­hand­lung zahlt», er­klärt Wer­ni­cke tro­cken. «Au­ßer­dem ist
sie nicht glück­lich.»
    «Glau­ben
Sie, daß sie glück­li­cher wä­re, wenn sie ge­sund wür­de?»
    «Wahr­schein­lich
nicht. Sie ist emp­find­lich, in­tel­li­gent, an­schei­nend voll Phan­ta­sie und wohl
erb­lich be­las­tet. Ei­gen­schaf­ten, die nicht un­be­dingt glück­lich ma­chen. Wenn sie
glück­lich ge­we­sen wä­re, wä­re sie kaum ge­flüch­tet.»
    «Warum
läßt man sie denn nicht in Frie­den?»
    «Ja,
warum nicht?» sagt Wer­ni­cke. «Das fra­ge ich mich auch oft. Warum ope­riert man
Kran­ke, von de­nen man weiß, daß die Ope­ra­ti­on doch nicht hel­fen wird? Wol­len
wir ei­ne Lis­te der Warums auf­stel­len? Sie wür­de lang wer­den. Ei­nes der Warums
wür­de sein: Warum trin­ken Sie nicht Ih­ren Wein und hal­ten end­lich mal die
Klap­pe? Und warum spü­ren Sie nicht die Nacht statt Ihr un­aus­ge­wa­sche­nes Ge­hirn?
Warum re­den Sie über das Le­ben, an­statt es zu füh­len?»
    Er
steht auf und dehnt sich. «Ich muß zur Nacht­vi­si­te zu den Ge­schlos­se­nen. Wol­len
Sie mit­kom­men?»
    «Ja.»
    «Zie­hen
Sie einen wei­ßen Kit­tel über. Ich neh­me Sie mit in ei­ne be­son­de­re Ab­tei­lung.
Ent­we­der kot­zen Sie nach­her, oder Sie sind fä­hig, Ih­ren Wein mit tiefer
Dank­bar­keit zu ge­nie­ßen.»
    «Die
Fla­sche ist leer.»
    «Ich
ha­be noch ei­ne auf mei­ner Bu­de. Mög­lich, daß wir sie brau­chen. Wis­sen Sie, was
merk­wür­dig ist? Daß Sie für Ih­re fünf­und­zwan­zig Jah­re schon ei­ne er­heb­li­che
Men­ge Tod, Elend und mensch­li­che Idio­tie ge­se­hen ha­ben – und trotz­dem nichts
an­de­res dar­aus ge­lernt zu ha­ben schei­nen, als die däm­lichs­ten Fra­gen zu
stel­len, die man sich den­ken kann. Aber das ist wohl der Lauf der Welt – wenn
wir end­lich wirk­lich was ge­lernt ha­ben, sind wir zu alt, es an­zu­wen­den – und so
geht das wei­ter, Wel­le auf Wel­le, Ge­ne­ra­ti­on auf Ge­ne­ra­ti­on. Kei­ne lernt das
ge­rings­te von der

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