E.M. Remarque
mit der
Haut. Die Naturwissenschaft weiß Hunderte solcher Beispiele. Wie können wir da
irgend etwas bestimmt wissen? Eine Ausweitung eines Organs oder die Entwicklung
eines neuen – und die Welt verändert sich, und der Gottbegriff verändert sich.
Prost!»
Ich
hebe mein Glas und trinke. Der Mosel ist herbe und erdig. «Es ist also besser,
zu warten, bis wir einen sechsten Sinn haben, was?» sage ich.
«Nicht
nötig. Sie können tun, was Sie wollen. Aber es ist gut zu wissen, daß ein Sinn
mehr alle Schlüsse über den Haufen werfen würde. Tierischer Ernst schwindet
davor dahin. Wie ist der Wein?»
«Gut.
Wie ist es mit Fräulein Terhoven? Besser?»
«Schlechter.
Ihre Mutter war hier – sie hat sie nicht erkannt.»
«Vielleicht
hat sie es nicht gewollt.»
«Das
ist fast dasselbe; sie hat sie nicht erkannt. Sie hat sie angeschrien,
wegzugehen. Typischer Fall.»
«Warum?»
«Wollen
Sie einen langen Vortrag über Schizophrenie, Elternkomplex, Flucht vor sich
selbst und Schockwirkung hören?»
«Ja»,
sage ich. «Heute ja.»
«Sie
werden ihn nicht hören. Nur das Nötigste. Spaltpersönlichkeit ist gewöhnlich
Flucht vor sich selbst.»
«Was
ist man selbst?»
Wernicke
sieht mich an. «Lassen wir das heute. Flucht in eine andere Persönlichkeit.
Oder in mehrere. Meistens springt der Patient zwischendurch immer wieder für
kurze oder längere Zeit in seine eigene zurück. Geneviéve nicht. Seit langem
nicht mehr. Sie zum Beispiel kennen sie gar nicht so, wie sie wirklich ist.»
«Sie
wirkt ganz vernünftig, so wie sie jetzt ist.»
Wernicke
lacht. «Was ist Vernunft? Logisches Denken?»
Ich
denke an die kommenden zwei neuen Sinne und antworte nicht. «Ist sie sehr
krank?» frage ich.
«Nach
unseren Begriffen, ja. Aber es gibt schnelle und oft überraschende Heilungen.»
«Heilungen
– wovon?»
«Von
ihrer Krankheit.» Wernicke zündet sich eine Zigarette an.
«Sie
ist oft ganz glücklich. Warum lassen Sie sie nicht so, wie sie ist?»
«Weil
ihre Mutter für die Behandlung zahlt», erklärt Wernicke trocken. «Außerdem ist
sie nicht glücklich.»
«Glauben
Sie, daß sie glücklicher wäre, wenn sie gesund würde?»
«Wahrscheinlich
nicht. Sie ist empfindlich, intelligent, anscheinend voll Phantasie und wohl
erblich belastet. Eigenschaften, die nicht unbedingt glücklich machen. Wenn sie
glücklich gewesen wäre, wäre sie kaum geflüchtet.»
«Warum
läßt man sie denn nicht in Frieden?»
«Ja,
warum nicht?» sagt Wernicke. «Das frage ich mich auch oft. Warum operiert man
Kranke, von denen man weiß, daß die Operation doch nicht helfen wird? Wollen
wir eine Liste der Warums aufstellen? Sie würde lang werden. Eines der Warums
würde sein: Warum trinken Sie nicht Ihren Wein und halten endlich mal die
Klappe? Und warum spüren Sie nicht die Nacht statt Ihr unausgewaschenes Gehirn?
Warum reden Sie über das Leben, anstatt es zu fühlen?»
Er
steht auf und dehnt sich. «Ich muß zur Nachtvisite zu den Geschlossenen. Wollen
Sie mitkommen?»
«Ja.»
«Ziehen
Sie einen weißen Kittel über. Ich nehme Sie mit in eine besondere Abteilung.
Entweder kotzen Sie nachher, oder Sie sind fähig, Ihren Wein mit tiefer
Dankbarkeit zu genießen.»
«Die
Flasche ist leer.»
«Ich
habe noch eine auf meiner Bude. Möglich, daß wir sie brauchen. Wissen Sie, was
merkwürdig ist? Daß Sie für Ihre fünfundzwanzig Jahre schon eine erhebliche
Menge Tod, Elend und menschliche Idiotie gesehen haben – und trotzdem nichts
anderes daraus gelernt zu haben scheinen, als die dämlichsten Fragen zu
stellen, die man sich denken kann. Aber das ist wohl der Lauf der Welt – wenn
wir endlich wirklich was gelernt haben, sind wir zu alt, es anzuwenden – und so
geht das weiter, Welle auf Welle, Generation auf Generation. Keine lernt das
geringste von der
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