E.M. Remarque
Unten gibt es Kaffee, Selters, Bier und Eis – oben sind die
Versammlungsräume. Bodos Verein ist ein Gesangsverein. Die Stadt wimmelt von
Vereinen, die alle ihre Vereinsabende, ihre Statuten, ihre Tagesordnungen haben
und sich sehr wichtig und ernst nehmen. Bodos Verein tagt donnerstags im ersten
Stock.
«Wir
haben einen schönen vierstimmigen Männerchor», sagt er. «Nur im ersten Tenor
sind wir etwas schwach. Komisch, es sind wohl sehr viele erste Tenöre im Kriege
gefallen. Und der Nachwuchs ist erst im Stimmbruch.»
«Willy
ist ein erster Tenor», erkläre ich.
«Tatsächlich?»
Bodo sieht ihn interessiert an. «Sing mal diesen Ton nach, Willy.»
Bodo
flötet wie eine Drossel. Willy flötet nach. «Gutes Material», sagt Bodo. «Nun
diesen!»
Willy
schafft auch den zweiten. «Werde Mitglied», drängt Bodo jetzt. «Wenn es dir
nicht paßt, kannst du ja immer wieder austreten.»
Willy
ziert sich etwas, aber zu unserem Erstaunen beißt er an. Er wird sofort zum Schatzmeister
des Klubs ernannt. Dafür zahlt er eine doppelte Lage Bier und Schnaps und fügt
für alle Erbsensuppe und Eisbein hinzu. Bodos Verein ist politisch
demokratisch; nur im ersten Tenor haben sie einen konservativen
Spielwarenhändler und einen halbkommunistischen Schuster; aber bei ersten
Tenören kann man eben nicht wählerisch sein, es gibt zu wenige. Bei der dritten
Lage erzählt Willy, daß er eine Dame kenne, die ebenfalls ersten Tenor singen
könne und sogar Baß. Der Verein schweigt, kaut Eisbein und zweifelt. Georg und
ich greifen ein und erklären die Duettfähigkeit Renée de la Tours. Willy
schwört, daß sie kein wirklicher Baß sei, sondern von Geburt reiner Tenor.
Darauf wird mit mächtigem Beifall geantwortet. Renée wird in Abwesenheit zum
Mitglied und sofort zum Ehrenmitglied ernannt. Willy spendet die Runden dafür.
Bodo träumt von mysteriösen Sopraneinlagen, wodurch andere Gesangvereine bei
Sängerfesten wahnsinnig werden sollen, weil sie glauben müssen, daß Bodos Klub
einen Eunuchen bei sich habe, zumal Renée natürlich in Männerkleidung auftreten
muß, da der Verein sonst als gemischter Chor klassifiziert würde.
«Ich
werde es ihr heute abend noch sagen», erklärt Willy. «Kinder, wird sie lachen!
In allen Stimmlagen!»
Georg
und ich gehen schließlich. Willy bewacht vom ersten Stock aus den Platz; er
rechnet, als alter Soldat, noch mit einem Hinterhalt der Hüter der
Nationalhymne. Aber nichts geschieht. Der Marktplatz liegt ruhig unter den
Sternen. Rundum stehen die Fenster der Kneipen offen. Gewaltig dringt es aus
Bodos Vereinslokal: «Wer hat dich, du schöner Wald, aufgebaut so hoch da
droben»?
«Sag
mal, Georg», frage ich, als wir in die Hakenstraße einbiegen. «Bist du
eigentlich glücklich?»
Georg
Kroll lüftet seinen Hut vor etwas Unsichtbarem in der Nacht. «Eine andere
Frage!» sagt er. «Wie lange kann man auf einer Nadelspitze sitzen?»
XI
Regen stürzt vom Himmel.
Nebel dampfen aus dem Garten dagegen. Der Sommer ist ertrunken, es ist kalt,
und der Dollar steht auf hundertzwanzigtausend Mark. Mit mächtigem Krach bricht
ein Teil der Dachtraufe nieder, und das Wasser schießt vor unserem Fenster
herunter wie ein grauer Glaswall. Ich verkaufe zwei Engel aus Bisquitporzellan
und einen Imortellenkranz an eine zarte Frau, deren beide Kinder an Grippe
gestorben sind. Nebenan liegt Georg und hustet. Er hat auch die Grippe, aber
ich habe ihn mit einer Kanne Glühwein gestärkt. Er hat außerdem ein halbes
Dutzend Zeitschriften um sich herumliegen und benutzt die Gelegenheit, sich
über die letzten Ehen, Scheidungen und Skandale der großen Welt in Cannes,
Berlin, London und Paris zu informieren. Heinrich Kroll, unverwüstlich
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