E.M. Remarque
Polarstern, Achse
und Zentrum in einem?
Frenetisches
Beifallsklatschen von gegenüber. Ich öffne die Augen. Einen Moment ist keine
Perspektive da. Alles ist flach und weit und nah und rund zur selben Zeit und
hat keinen Namen. Dann wirbelt es zurück und steht still und ist wieder das,
was es heißt. Wann war das schon einmal so? Es war schon einmal so! Ich weiß es
irgendwoher, aber es fällt mir nicht ein.
Lisa
schwenkt eine Flasche Kakaolikör aus dem Fenster. In diesem Augenblick geht die
Türglocke. Wir winken Lisa hastig zu und schließen das Fenster. Bevor Georg
verschwinden kann, öffnet sich die Bürotür, und Liebermann, der Friedhofswärter
des Stadtfriedhofes, tritt ein. Er umfaßt mit einem Blick den Spirituskocher,
den Glühwein und Georgs Pyjama und krächzt: «Geburtstag?»
«Grippe»,
erwidert Georg.
«Gratuliere!»
«Was
ist da zu gratulieren?»
«Grippe
bringt Geschäft. Ich merke as draußen. Bedeutend mehr Tote.»
«Herr
Liebermann», sage ich zu dem rüstigen Achtzigjährigen. «Wir sprechen nicht vom
Geschäft. Herr Kroll hat einen schweren kosmischen Grippeanfall, den wir soeben
heroisch bekämpfen. Wollen Sie auch ein Glas Medizin?»
«Ich
bin Schnapstrinker. Wein macht mich nur nüchtern.»
«Wir
haben auch Schnaps.»
Ich
schenke ihm ein Wasserglas voll ein. Er trinkt einen guten Schluck, nimmt dann
seinen Rucksack ab und holt vier Forellen hervor, die in große grüne Blätter
eingeschlagen sind. Sie riechen nach Fluß und Regen und Fisch.
«Ein
Geschenk», sagt Liebermann.
Die
Forellen liegen mit gebrochenen Augen auf dem Tisch. Ihre grüne und graue Haut
ist voll roter Flecken. Wir starren sie an. Sanft ist der Tod plötzlich wieder
in den Raum eingebrochen, in dem soeben noch die Unsterblichkeit schwang –
sanft und schweigend, mit dem Vorwurf der Kreatur gegen den Mörder und
Allesesser Mensch, der von Frieden und Liebe redet und Lämmern die Kehle
zerschneidet und Fische ersticken läßt, um Kraft genug zu haben, weiter über
Frieden und Liebe zu reden – Bodendiek, den Mann Gottes und saftigen
Fleischesser, nicht ausgenommen.
«Ein
schönes Abendessen», sagt Liebermann. «Besonders für Sie, Herr Kroll. Leichte
Krankenkost.»
Ich
trage die toten Fische in die Küche und übergebe sie Frau Kroll, die sie
fachkundig betrachtet. «Mit frischer Butter, gekochten Kartoffeln und Salat»,
erklärt sie.
Ich
sehe mich um. Die Küche glänzt, Licht strahlt aus den Kochtöpfen zurück, eine
Pfanne zischt, und es riecht gut. Küchen sind immer ein Trost. Der Vorwurf
schwindet aus den Augen der Forellen. Aus toten Kreaturen wird plötzlich
Nahrung, die man verschiedenartig zubereiten kann. Fast scheint es, als wären
sie nur deswegen geboren worden. Was für Verräter wir doch sind, denke ich, an
unseren edleren Gefühlen!
Liebermann
hat einige Adressen gebracht. Die Grippe wirkt sich tatsächlich bereits aus.
Leute sterben, weil sie nicht viel Widerstandskraft haben. Der Hunger während
des Krieges hat sie ohnehin schon geschwächt. Ich beschließe plötzlich, mir
einen anderen Beruf zu suchen. Ich bin des Todes müde. Geoerg hat sich seinen
Bademantel geholt. Er sitzt wie ein schwitzender Buddha da. Der Bademantel ist
giftgrün. Georg liebt zu Hause scharfe Farben. Ich weiß jetzt auf einmal, woran
mich unser Gespräch vorhin erinnert hat. An etwas, was Isabelle vor einiger
Zeit gesagt hat. Ich erinnere mich nicht mehr genau daran – aber es hatte mit
dem Betrug der Dinge zu tun. Doch war es bei uns wirklich ein Betrug? Oder
waren wir Gott einen Augenblick um einen Zentimeter näher?
Die Dichterklause im
Hotel «Walhalla» ist ein kleiner getäfelter Raum. Eine Büste Goethes steht auf
einem Regal mit Büchern, und Photographien und Stiche von deutschen
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