E.M. Remarque
wissen, daß sie einmal Gase waren. Sie sind
jetzt nur noch Regen und haben keine Erinnerung an das Vorher.»
«Oder
wie Tränen», sagt Isabelle. «Aber Tränen sind voll von Erinnerungen.»
Wir
gehen eine Zeitlang schweigend weiter. Ich denke an die sonderbaren Momente,
wenn einen unvermutet das Doppelgängergesicht einer scheinbaren Erinnerung über
viele Leben hinweg jäh anzusehen scheint. Der Kies knirscht unter unseren
Schuhen. Hinter der Mauer des Gartens hupt langgezogen ein Auto, als warte es
auf jemand, der entfliehen will.
«Dann
ist sie wie Tod», sagt Isabelle schließlich.
«Was?»
«Liebe.
Vollkommene Liebe.»
«Wer
weiß das, Isabelle? Ich glaube, niemand kann das jemals wissen. Wir erkennen
immer nur etwas, solange wir jeder noch ein Ich sind. Wenn unsere Ichs miteinander
verschmölzen, so wäre es wie beim Regen.Wir wären ein neues Ich und könnten uns
an die einzelnen früheren Ichs nicht mehr erinnern. Wir wären etwas anderes –
so verschieden wie Regen von Luft – nicht mehr ein gesteigertes Ich – durch ein
Du.»
«Und
wenn Liebe vollkommen wäre, so daß wir verschmölzen, dann wäre es wie Tod?»
«Vielleicht»,
sage ich zögernd. «Aber nicht so wie Vernichtung. Was Tod ist, weiß niemand,
Isabelle. Man kann ihn deshalb mit nichts vergleichen. Aber wir würden uns
sicher nicht mehr als Selbst fühlen. Wir würden nur wieder ein anderes einsames
Ich werden.»
«Dann
muß Liebe immer unvollkommen sein?»
«Sie
ist vollkommen genug», sage ich und verfluche mich, weil ich mit meiner
pedantischen Schulmeisterei wieder so weit in ein Gespräch hineingeraten bin.
Isabelle
schüttelt den Kopf. «Weiche nicht aus, Rudolf! Sie muß unvollkommen sein, ich
sehe das jetzt. Wenn sie vollkommen wäre, gäbe es einen Blitz, und nichts wäre
mehr da.»
«Es
wäre noch etwas da – aber jenseits von unserer Erkenntnis.»
«So
wie der Tod?»
Ich
sehe sie an. «Wer weiß das?» sage ich vorsichtig, um sie nicht weiter zu
erregen. «Vielleicht hat der Tod einen ganz falschen Namen. Wir sehen ihn immer
nur von einer Seite. Vielleicht ist er die vollkommene Liebe zwischen Gott und uns.»
Der
Wind wirft einen Schwall Regen durch die Blätter der Bäume, die ihn mit
Geisterhänden weiterwerfen. Isabelle schweigt eine Weile. «Ist Liebe deshalb so
traurig?» fragt sie dann.
«Sie
ist nicht traurig. Sie macht nur traurig, weil sie unerfüllbar und nicht zu
halten ist.»
Isabelle
bleibt stehen. «Warum, Rudolf?» sagt sie plötzlich sehr heftig und stampft mit
den Füßen. «Warum muß das so sein?»
Ich
sehe in das blasse, gespannte Gesicht. «Es ist das Glück», sage ich.
Sie
starrt mich an. «Das ist das Glück?»
Ich
nicke.
«Das
kann nicht sein! Es ist doch nichts als Unglück!»
Sie
wirft sich gegen mich, und ich halte sie fest. Ich fühle, wie das Schluchzen
gegen ihre Schultern stößt. «Weine nicht», sage ich. «Was würde sein, wenn man
um so etwas schon weinen wollte?»
«Um
was denn sonst?»
Ja,
um was sonst, denke ich. Um alles andere, um das Elend auf diesem verfluchten
Planeten, aber nicht um das. «Es ist kein Unglück, Isabelle», sage ich. «Es ist
das Glück. Wir haben nur so törichte Namen wie ,vollkommen‘ und ,unvollkommen‘
dafür.»
«Nein,
nein!» Sie schüttelt heftig den Kopf und läßt sich nicht trösten. Sie weint und
klammert sich an mich, und ich halte sie in den Armen und fühle, daß nicht ich
recht habe, sondern sie, daß sie es ist, die keine Kompromisse kennt, daß in
ihr noch das erste, einzige Warum brennt, das vor aller Verschüttung durch den
Mörtel des Daseins da war, die erste Frage des erwachten Selbst.
«Es
ist kein Unglück», sage ich trotzdem. «Unglück ist etwas ganz anderes,
Isabelle.»
«Was?»
«Unglück
ist nicht, daß man nie ganz eins werden kann. Unglück ist, daß man sich
immerfort verlassen
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