Emerald: Hörspiel
verursacht?«, fuhr der alte Mann fort. »Vielleicht wird sie ja gerade durch den
Kampf hervorgerufen, zu dem uns dieses Kind aufstacheln will. Vielleicht kämpfen und verlieren wir. Vielleicht ist das, was das Kind gesehen hat, die Rache der alten Hexe.«
»So ein alter Angsthase«, zischte Emma.
Granny Peet beachtete sie nicht. »Dann müssen wir dafür sorgen, dass wir nicht verlieren.«
Sie nahm Emmas Hand und führte sie nach vorn, bis sie neben dem Feuer standen, inmitten des Kreises der alten Männer.
»Ich bin schon länger die weise Frau des Dorfes, als die meisten von euch am Leben sind. Ja, wenn wir uns gegen die Hexe stellen und gegen sie verlieren, bedeutet es unseren Untergang. Alles, was wir sind – unsere Geschichte, unsere Geschichten –, wird aus der Erinnerung der Welt verschwinden. Aber«, sagte sie und wandte sich langsam im Kreis, hielt die Versammlung mit ihrem Blick fest, »wir haben keine andere Wahl. Wir müssen kämpfen.«
Emma merkte, wie etwas Seltsames passierte: Die Runzeln im Gesicht der alten Frau schienen sich zu glätten. Ihre Augen funkelten und strahlten, der krumme Rücken streckte sich. Die alte Granny Peet, gebückt und faltig, war immer noch da, aber während sie sprach, erhob sich auch diese andere Frau, groß gewachsen, stolz und schön. Es war, als ob beide gleichzeitig existierten.
»Wir alle kennen die Geschichten über einen Gegenstand von großer Macht, der in diesen Bergen versteckt ist. Viele von uns glauben, dass es diese Geschichten waren, welche die Hexe zu uns geführt haben. Aber was ist das für ein Gegenstand, den sie sucht? Worin liegt seine Macht? Das erzählen uns die Geschichten nicht.«
Granny Peet schwieg. Emma sah, wie sich die Männer und Frauen unwillkürlich vorbeugten. Über sich hörte sie die
Galerie knarren und knacken, als sich auch die dort Sitzenden nach vorne lehnten, um besser hören zu können.
»Es ist ein Buch.«
Nach einer kurzen Pause fuhr sie fort: »Es waren einmal drei mächtige magische Bücher, die mächtigsten Zauberbücher, die je verfasst worden waren. Aber sie gingen verloren, vor Jahrtausenden schon. Trotzdem wissen alle Zauberer und alle Weisen über sie Bescheid und kennen ihre Macht. Jedes einzelne von ihnen kann unsere Welt verändern.
Vor langer Zeit schon begann ich zu ahnen, dass eines dieser Bücher hier vergraben liegt. Nur welches? Jetzt, dank dieses Kindes, weiß ich es.«
Sie legte Emma ihre Hand in den Nacken. Emma fühlte die verdrehten und knorrigen Finger der alten Frau – und gleichzeitig die weiche Handfläche der jungen.
»Das Buch, das in diesen Bergen vergraben liegt, das Buch, das die Hexe mehr begehrt als alles andere, birgt die Geheimnisse von Zeit und Raum. Es wird ›Emerald‹ genannt, es ist eine der Chroniken vom Anbeginn .«
Ein Murmeln zog durch den Raum, und obwohl sie direkt neben dem Feuer stand, fühlte Emma, wie ein kalter Schauer über sie hinwegglitt. Granny Peet hob eine Hand. Stille kehrte ein.
»Die Chronik gestattet demjenigen, der sie aufschlägt, durch die Zeit zu reisen, sich quer durch die Geschichte zu bewegen. Das allein sollte unsere Herzen vor Angst erbeben lassen. Aber da ist noch mehr.« Emma hatte den Eindruck, dass sich die Versammlung noch näher an sie herandrängte. Alle hingen an den Lippen der alten Frau. »Wenn es einer Person gelingt, die Macht des Buches ganz und gar zu beherrschen, dann ist diese Person, dieser Zauberer, nicht nur in der Lage, durch Zeit
und Raum zu reisen, sondern kann sogar beides kontrollieren . Das Wesen unserer Welt wird sich vor diesem Zauberer beugen, wird seiner Willkür unterworfen sein. Von dem Moment an wird unser Leben, das Leben all jener, die wir lieben, das Leben aller Menschen auf diesem Planeten, von seiner Gnade abhängig sein. Das Buch Emerald darf niemals in die Hände der Hexe fallen.«
Sie verstummte. Aus dem Augenwinkel sah Emma, wie die wunderschöne Geisterfrau in sich zusammenfiel und verblasste, bis nur noch die alte, verschrumpelte Granny Peet neben ihr stand. Eine ganze Weile herrschte Totenstille. Dann stand ein großer, muskulöser Mann im hinteren Bereich des Raums auf.
»Ich werde kämpfen.«
Und einer nach dem anderen erhob sich von seinem Platz auf den Bänken und trat vor, bis jeder Mann zwischen sechzehn und sechzig aufgestanden war und seine Bereitschaft zum Kampf erklärt hatte.
Der alte Mann seufzte. »Also schön, wenn wir kämpfen müssen, dann müssen wir kämpfen. Aber wer soll uns
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