Emil oder Ueber die Erziehung
richtiges Spiel wesentlichen Verhältnisse der Tonart werden seinem Geiste stets gegenwärtig, sein Vortrag wird richtiger und sein Fortschritt schneller sein. Es gibt nichts Sonderbareres, als was die Franzosen Solmisiren nach der Natur nennen; das heißt weiter nichts als die eigentlichenBegriffe von der Sache trennen, um völlig fremdartige an ihre Stelle zu setzen, die nur zu verwirren im Stande sind. Nichts ist natürlicher, als in Folge einer Transposition zu solmisiren, sobald die Tonart transponirt wird. Aber nun genug über Musik! Unterrichtet euren Zögling in derselben, wie ihr wollt; vorausgesetzt, daß sie ihm nie etwas Anderes als ein Vergnügen sei.
Wir sind jetzt bereits über die Beschaffenheit der fremden Körper durch ihre Beziehungen zu dem unsrigen hinreichend unterrichtet; wir kennen ihre Schwere, ihre Gestalt, ihre Farbe, ihre Dichtigkeit, ihre Größe, ihre Entfernung, ihre Temperatur, ihre Ruhe oder Bewegung. Wir sind über diejenigen belehrt, deren Annäherung oder Entfernung uns vorteilhaft ist, so wie über die Art und Weise, die wir beobachten müssen, um ihren Widerstand zu besiegen oder ihnen selbst einen Widerstand entgegenzusetzen, der uns vor ihren schädlichen Einwirkungen bewahrt. Aber das ist freilich noch nicht genug. Unser eigener Körper erschöpft sich unaufhörlich und muß deshalb unaufhörlich wieder erneuert werden. Obgleich wir die Fähigkeit besitzen, fremde Substanzen in unsere eigene Substanz zu verwandeln, so ist die Wahl derselben doch keineswegs gleichgiltig. Nicht Alles eignet sich für den Menschen als Nahrungsmittel, und unter den Stoffen, die dazu tauglich sind, gibt es wieder mehr oder weniger zuträgliche. In wie fern sie das sind, hängt von der Körperbeschaffenheit seines Geschlechts, von dem Klima, das er bewohnt, von seinem besonderen Temperament und der Lebensweise ab, die sein Stand ihm vorschreibt.
Wir würden vor Hunger oder an Gift sterben, wenn wir behufs Wahl der uns dienlichen Nahrungsmittel so lange warten müßten, bis uns die Erfahrung sie kennen und wählen gelehrt hätte; aber der Allgütige, welcher das Vergnügen der empfindungsfähigen Wesen zu einem Mittel ihrer Erhaltung gemacht hat, gibt uns dadurch, daß etwas unserm Gaumen zusagt, zugleich zu erkennen, daß es auch unserm Magen zuträglich ist. Im Stande der Natur gibt es für den Menschen keinen zuverlässigeren Arzt als seinen eigenen Appetit; und ich zweifle keinen Augenblick daran,daß, so lange derselbe in seinem ursprünglichen Zustande verharren würde, die wohlschmeckendsten Speisen ihm auch die gesündesten wären.
Ja noch mehr. Der Schöpfer der Dinge sorgt nicht allein für die Bedürfnisse, die er uns eingepflanzt hat, sondern auch noch für diejenigen, die wir uns selbst bereiten. Damit unsere Begierde mit dem Bedürfnisse stets Hand in Hand gehe, hat er Fürsorge getroffen, daß zugleich mit unserer Lebensweise auch unser Geschmack wechselt und sich verändert. Je mehr wir uns von dem Naturzustande entfernen, desto mehr verlieren wir unseren natürlichen Geschmack, oder wird vielmehr die Gewohnheit in uns zur zweiten Natur, welche die ursprüngliche so vollständig verdrängt, daß diese Niemand von uns mehr kennt.
Hieraus ergibt sich, daß der natürlichste Geschmack auch der einfachste sein muß, denn dieser verwandelt sich am leichtesten, während er bei Ueberreizung und Aufregung durch die Einwirkungen unserer Phantasie eine unveränderliche Form annimmt. Ein Mensch, der nicht immer an der Scholle klebt, wird sich ohne Mühe in die Lebensweise jedes Landes schicken; wer sich aber nur in einem bestimmten Lande einheimisch fühlt, wird sich nie mit den Sitten eines fremden Landes befreunden können.
Dies scheint mir in jedem Sinne seine Wahrheit zu haben, vorzüglich aber auf den Geschmack im eigentlichen Sinne des Wortes seine Anwendung zu finden. Milch ist unsere erste Nahrung; nur sehr allmählich gewöhnen wir uns an Speisen von schärferem Geschmacke. Anfänglich flößen sie uns geradezu Widerwillen ein. Obst, Gemüse, Kräuter und endlich auch noch etwas gebratenes Fleisch ohne Gewürz und Salz bildeten die Gastmahle der ersten Menschen. [36]
Trinkt ein Wilder zum ersten Male Wein, so verzieht er sicherlich das Gesicht, und sein Magen vermag ihn nicht zu vertragen; und selbst unter uns wird sich Jeder, dem der Genuß gegohrener Getränke bis zu seinem zwanzigsten Jahre fremd geblieben ist, nie mehr andieselben gewöhnen können. Keinem von uns würde es in
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