Emil oder Ueber die Erziehung
verirren uns jedoch dabei und wissen schließlich nicht mehr, wo wir uns befinden. Als wir uns nun zur Rückkehr entschließen, können wir unsern Weg nicht wiederfinden. Die Zeit verstreicht, es wird heiß, wir empfinden Hunger. Wir beeilen uns und irren vergeblich bald in dieser, bald in jener Richtung fort. Ueberall stoßen wir auf nichts als Wald, Steinbrüche, hier und da auch wol auf eine ausgerodete Stelle, aber nirgends entdecken wir etwas, wonach wir uns zu orientiren vermöchten. Schweißtriefend, abgemattet und ausgehungert verirren wir uns trotz unseres Hin- und Herlaufens nur noch mehr. Endlich setzen wir uns, um ein wenig auszuruhen und zu überlegen. Emil, von dem ich einmal annehmen will, daß er wie ein anderes Kind erzogen sei, ist nicht zu Ueberlegungen aufgelegt, sondern weint. Er weiß nicht, daß wir uns dicht vor dem Thore von Montmorency befinden, welches uns nur ein einfaches Gebüsch verbirgt. Aber in seinen Augen bildet dieses Gebüsch einenförmlichen Wald; ein Kind seiner Größe ist schon in einem bloßen Gebüsche wie begraben.
Nach einem kurzen Stillschweigen sage ich mit unruhiger Miene zu ihm: Mein lieber Emil, wie in aller Welt sollen wir es nur anstellen, um hier herauszukommen?
Emil (schweißtriefend und heiße Thränen vergießend). Ich weiß es nicht. Ich bin müde; mich plagt Hunger und Durst; ich kann nicht mehr weiter.
Johann Jacob. Glaubst du etwa, daß mir besser zu Muthe ist? Und meinst du nicht, daß ich auch weinen würde, wenn ich von meinen Thränen satt werden könnte? Weinen kann uns nichts helfen; es kommt darauf an, daß wir uns zurecht finden. Sieh nach deiner Uhr. Wie spät ist es schon?
Emil. Es ist Mittag, und ich bin noch nüchtern.
Johann Jacob. In der That, es ist schon Mittag, und ich bin noch nüchtern.
Emil. Ach, was für Hunger Sie haben müssen!
Johann Jacob. Leider wird mich mein Mittagbrod hier nicht aufsuchen. Mittag! Das ist gerade dieselbe Stunde, in welcher wir gestern von Montmorency aus die Lage des Waldes beobachteten. Wenn wir nun im Stande wären, in ähnlicher Weise von dem Walde aus die Lage von Montmorency zu beobachten, so ….
Emil. Ja; aber gestern sahen wir den Wald, während wir von hier aus die Stadt nicht zu erblicken vermögen.
Johann Jacob. Das ist freilich ein Uebelstand … Wenn wir nun aber die Stadt, um ihre Lage zu finden, gar nicht zu sehen brauchten!
Emil. O, mein Freund, wie sollte das zugehen?
Johann Jacob. Sagten wir nicht, der Wald läge …
Emil. Nördlich von Montmorency.
Johann Jacob. Demnach muß auch Montmorency …
Emil. Südlich vom Walde liegen.
Johann Jacob. Wir haben ja, dächte ich, ein Mittel, Mittags den Norden zu finden.
Emil. Gewiß, durch die Richtung des Schattens.
Johann Jacob. Wie sollen wir nun aber den Süden auffinden?
Emil. Ja, wie läßt sich das anstellen?
Johann Jacob. Der Süden ist doch dem Norden entgegengesetzt.
Emil. Das ist wahr. Es kommt blos darauf an, daß wir die Richtung, welche dem Schatten entgegengesetzt ist, aufsuchen. Ja, da ist der Süden, da ist der Süden! Sicherlich liegt Montmorency nach dieser Richtung hin. Wir wollen es auf dieser Seite suchen.
Johann Jacob. Du kannst Recht haben; wir wollen diesen Fußpfad durch das Gehölz einschlagen.
Emil (in die Hände klatschend und ein Freudengeschrei ausstoßend). Ach, ich sehe Montmorency! Es liegt ganz frei und offen gerade vor uns. Lassen Sie uns zu unserm Frühstück und Mittagsessen eilen! Die Astronomie ist doch zu etwas gut.
Sollte er letzteres Bekenntniß auch nicht in dürren Worten ablegen, so könnt ihr euch doch davon überzeugt halten, daß er es bei sich denken wird. Darauf kommt übrigens wenig an, wenn ich es nur nicht in Worte kleide. Ihr könnt versichert sein, daß er die Lection dieses Tages sein Leben lang nicht vergessen wird, während meine Rede, sobald ich ihm über dies Alles nur in seinem Zimmer einen Vortrag gehalten hätte, schon am nächsten Tage wieder vergessen wäre. Man muß sich so viel als möglich durch die That zu reden bestreben und nur das sagen, was zu thun unmöglich ist.
Der Leser wird mich nicht im Verdacht haben, daß ich eine so geringschätzende Meinung von ihm hege, um ihm über jeden Wissenszweig ein besonderes Beispiel zu geben; um was es sich aber auch immer handeln möge, so kann ich dem Lehrer nie dringend genug an das Herz legen, seine Beweise stets mit der Fassungskraft seines Zöglings in Einklang zu bringen; denn, noch einmal sei es gesagt, der
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