Emil oder Ueber die Erziehung
Verständniß näher zu bringen, jenes Verlangen geschickt in ihm zu erwecken und ihm die Mittel an die Hand zu geben, dasselbe zu befriedigen. Daraus ergibt sich, daß eure Fragen nicht allzu häufig, aber gut gewählt sein müssen, und daß ihr, da er weit öfter als ihr in die Lage kommen wird, Fragen zu stellen, euch auch weit seltener Blößen geben und weit öfter Gelegenheit bekommen werdet, ihm zu sagen: »Wozu ist das, wonach du mich fragst, zu wissen nütze?«
Da ferner wenig darauf ankommt, daß er dies oder jenes lernt, wenn er nur das Gelernte richtig begreift und anzuwenden versteht, so gebet ihm, falls ihr ihm über das, was ihr ihm mittheilt, keine befriedigende Erklärung geben könnt, lieber gar keine. Sagt unbedenklich zu ihm: »Ich kann dir hierauf keine genügende Antwort ertheilen; ich hatte Unrecht; laß uns nicht weiter davon reden.« War eure Belehrung wirklich übel angebracht, so schadet es gar nichts, sie völlig fallen zu lassen; war sie dagegen nicht am unrechten Orte, so werdet ihr bei einiger Umsicht bald wieder Gelegenheit finden, ihm den Nutzen derselben bemerkbar zu machen.
Lange Erläuterungen in förmlichen Reden haben durchaus nicht meinen Beifall; die jungen Leute achten wenig darauf und behalten sie selten. Auf die Sache, die Sache kommt es an! Ich kann nicht oft genug wiederholen, daß wir den Worten einen viel zu großen Spielraum gewähren. Mit unserer schwatzhaften Erziehung bilden wir nur Schwätzer.
Nehmen wir einmal an, daß mich mein Zögling, während ich mit ihm den Lauf der Sonne und die Kunst sichzu orientiren studire, plötzlich mit der Frage, wozu denn das Alles eigentlich diene, unterbreche. Was für eine schöne Rede ließe sich da halten! Wie hübsch könnte ich da die Gelegenheit ergreifen, ihn bei Beantwortung seiner Frage über allerlei Dinge zu belehren, zumal wenn wir bei unserer Unterredung Zeugen hätten. [4]
Ich könnte mit ihm von dem Nutzen des Reisens reden, von den Vorteilen des Handels, von den unter jedem Himmelsstriche vorkommenden Producten, von den Sitten der verschiedenen Völker, vom Gebrauche des Kalenders, von der für die richtige Betreibung des Ackerbaues nöthigen Berechnung der Wiederkehr der Jahreszeiten, von der Kunst der Schifffahrt, von der Kunst, sich auf dem Meere, ohne daß man weiß, wo man sich befindet, zurecht zu finden und seine Fahrt genau zu verfolgen. Politik, Naturgeschichte, Astronomie, sogar Moral und Völkerrecht ließen sich dergestalt in meine Rede verweben, daß ich meinem Zöglinge eine hohe Idee von allen diesen Wissenschaften und ein lebhaftes Verlangen, sie zu lernen, einflößen könnte. Hätte ich mich aber in dieser Weise geäußert, so würde mein Vortrag doch nichts weiter als die prahlerische Auskramung eines wahren Pedanten sein, von der mein Zögling auch keinen einzigen Begriff wirklich verstanden hätte. Er hätte große Lust, mich abermals zu fragen, welchen Vortheil die Kunst sich zu orientiren brächte, würde es aber aus Furcht, mich dadurch zu kränken, nicht wagen. Er würde es für vorteilhafter finden, sich zu stellen, als ob er das, was er gezwungener Weise hat anhören müssen, verstände. So geht es bei dieser schönen Erziehungsweise zu.
Aber unser Emil, der eine mehr bäuerische Erziehung erhalten hat, und den wir mit vieler Mühe dahin zu bringen suchen, schwer zu begreifen, wird das Alles garnicht anhören. Bei dem ersten Worte, das er nicht versteht, wird er davonlaufen, sich ausgelassen im Zimmer umhertummeln und mich meine hochtrabende Rede allein halten lassen. Wir müssen uns nach einer drastischeren Lösung umsehen. Mein wissenschaftlicher Apparat hat in seinen Augen keinen Werth.
Als mich mein Zögling durch die ungelegene Frage: »Wozu dient das?« unterbrach, untersuchten wir gerade die Lage des Waldes nördlich von Montmorency. »Du hast Recht,« versetzte ich; »wir wollen in Muße darüber nachdenken, und finden wir, daß diese Arbeit keinen Vorteil bringt, so wollen wir sie nicht wieder aufnehmen, denn es fehlt uns keineswegs an nützlichem Zeitvertreibe.« Wir beschäftigen uns darauf mit etwas Anderem, und während des übrigen Theils des Tages ist von Geographie nicht weiter die Rede.
Am folgenden Morgen schlage ich ihm, noch ehe wir unser Frühstück eingenommen haben, einen Spaziergang vor. Mit Freuden geht er darauf ein; zum Laufen sind Kinder stets bereit, und Emil ist namentlich gut zu Fuße. Wir begeben uns nach dem Walde, durchwandern Auen und Wiesen,
Weitere Kostenlose Bücher