Emil oder Ueber die Erziehung
Uebelstand beruht nicht darin, daß derselbe etwas nicht versteht, sondern darin, daß er es sich zu verstehen einbildet.
Ich erinnere mich noch sehr wohl, wie ich einst einem Kinde, dem ich Liebe zur Chemie einflößen wollte, ersteinige metallische Niederschläge zeigte und darauf die Bereitung der Tinte erklärte. Ich sagte ihm, daß ihre Schwärze von sehr fein zertheiltem Eisen, welches durch Vitriol aufgelöst und durch eine alkalische Flüssigkeit niedergeschlagen wäre, hervorgerufen würde. Mitten in meiner gelehrten Erklärung unterbrach mich hinterlistiger Weise der kleine Bursche auf einmal mit der erwähnten Frage, die ich ihn zu stellen selbst angehalten hatte und setzte mich dadurch in nicht geringe Verlegenheit.
Nach kurzer Ueberlegung verfiel ich auf folgenden Ausweg. Ich ließ eine Flasche Wein aus dem Keller des Hausherrn und eine andere zu acht Sous von einem Weinhändler holen. In ein kleines Fläschchen goß ich eine Lösung von Kali und sagte darauf, nachdem ich erst noch zwei Gläser mit diesen beiden verschiedenen Weinsorten vor mich hingestellt hatte, [5] zu ihm:
»Man verfälscht verschiedene Lebensmittel, um sie besser erscheinen zu lassen, als sie sind. Diese Verfälschungen täuschen das Auge und den Geschmack; aber sie sind schädlich und machen die verfälschte Sache ungeachtet ihres schönen Aussehens schlechter, als sie vorher war.«
»Namentlich verfälscht man die Getränke und hauptsächlich die Weine, weil bei ihnen der Betrug schwerer zu erkennen ist und dem Betrüger einen größeren Gewinn einbringt.«
»Die Verfälschung der herben oder sauren Weine geschieht durch Glätte; die Glätte ist aber ein Bleipräparat. Blei, welches mit Säuren verbunden ist, bildet ein sehr süßes Salz, das dem Geschmack die Säure des Weines weniger bemerkbar macht, aber gleichzeitig für diejenigen, welche ihn trinken, ein Gift ist. Es ist also von großer Wichtigkeit, daß man, ehe man verdächtigen Wein trinkt, sich davon überzeuge, ob er mit Glätte versetzt sei oder nicht. Und nun gib Obacht, wie ich es mache, um dies zu entdecken!«
»Der Saft der Weintraube enthält nicht nur einen brennbaren Weingeist, wie du aus dem Brantwein abnehmen kannst, den man daraus bereitet, sondern er enthält auch eine Säure, wie du aus dem Weinessig und Weinstein, welche man gleichfalls daraus gewinnt, erkennen kannst.«
»Diese Säure hat mit metallischen Substanzen Verwandtschaft, löst sie auf und bildet in Verbindung mit ihnen ein zusammengesetztes Salz. So ist zum Beispiel der Rost nichts Anderes als Eisen, das durch die in der Luft oder in dem Wasser enthaltene Säure aufgelöst ist, und eben so ist der Grünspan durch Essig aufgelöstes Kupfer.«
»Aber diese nämliche Säure hat mit den alkalischen Substanzen noch mehr Verwandtschaft als mit den metallischen Substanzen, so daß vermittelst der ersteren die Säure in den zusammengesetzten Salzen, deren ich so eben Erwähnung gethan habe, gezwungen wird, sich von dem Metalle, mit dem sie verbunden ist, zu lösen, um sich mit dem Alkali zu verbinden.«
»Jetzt setzt sich die metallische Substanz, nachdem sie von der Säure, die sie gebunden hatte, befreit ist, und macht die Flüssigkeit trübe.«
»Wenn also eine von diesen beiden Weinsorten hier mit Glätte versetzt ist, so hält seine Säure die Glätte gebunden. Sobald ich nun aber von unserer alkalischen Flüssigkeit etwas hineingieße, so wird dieselbe die Säure zwingen, ihre Beute wieder frei zu lassen; das Blei, welches nicht länger in gebundenem Zustande verharrt, wird wieder als solches erscheinen, die Flüssigkeit trüben und endlich auf dem Boden des Glases einen Niederschlag bilden.«
»Ist jedoch im Weine weder Blei [6] noch irgend einanderes Metall enthalten, so wird sich das Alkali ruhig [7] mit der Säure verbinden; Alles wird in aufgelöstem Zustande bleiben und es wird sich kein Niederschlag bilden.«
Hierauf goß ich etwas von meiner alkalischen Flüssigkeit nach einander in die beiden Gläser; der dem Keller des Hausherrn entnommene Wein blieb hell und klar, der andere wurde dagegen auf der Stelle trübe, und nach Verlauf einer Stunde konnte man den Niederschlag des Bleies auf dem Boden des Glases deutlich gewahren.
»Hier kannst du es nun selber sehen,« fuhr ich fort, »dieser Wein ist natürlich und rein und man darf unbesorgt von ihm trinken, jener aber ist verfälscht und enthält Gift. Dies läßt sich eben vermittelst der Kenntnisse nachweisen, nach deren
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