Emil oder Ueber die Erziehung
Nutzen du mich fragst. Wer die Bereitung der Tinte versteht, vermag auch die verfälschten Weine zu erkennen.«
Ich war mit meinem Beispiele sehr zufrieden, und nichts desto weniger fiel es mir auf, daß es auf das Kind nicht den geringsten Eindruck hervorgebracht hatte. Ich brauchte einige Zeit, um zu der Einsicht zu gelangen, daß ich doch nur eine Thorheit begangen hatte; denn ganz abgesehen davon, daß es einem Kinde im Alter von zwölf Jahren völlig unmöglich sein mußte, meiner weitläufigen Erklärung zu folgen, so konnte ihm auch der Nutzen dieser Erfahrung nicht zum Verständniß kommen, weil es beide Weinsorten gekostet, beide für gut befunden hatte und deshalb auch nicht im Stande war, mit dem Worte Verfälschung, welches ich ihm so gut erklärt zu haben meinte, irgend einen Begriff zu verbinden. Die anderen Wörter »ungesund« und »Gift« hatten für dasselbe ebenfalls keinen Sinn. Es befand sich dabei in dem Falle des erwähntenKindes, welches die Geschichte von dem Arzte Philippus vortrug, und so wird es allen Kindern ergehen.
Das Verhältnis zwischen Ursache und Wirkung, deren Verkettung wir nicht wahrnehmen, die Güter und die Uebel, von denen wir keine Vorstellung haben, die Bedürfnisse, welche wir noch nie empfunden haben, existiren für uns nicht. Es ist unmöglich, uns dazu zu vermögen, etwas zu thun, was auf sie Bezug hat. Im Alter von fünfzehn Jahren betrachtet man das Glück eines Weisen wie mit dreißig Jahren die Herrlichkeit des Paradieses. Hat man von dem Einen eben so wenig ein rechtes Verständniß wie von dem Andern, so wird man es sich auch wenig angelegen sein lassen, sie zu erwerben; ja sogar wenn man mit ihnen eine richtige Vorstellung verbände, würde man sich ihre Erlangung doch wenig Anstrengung kosten lassen, wenn man kein Verlangen nach ihnen hätte, wenn Einem nicht das Gefühl sagte, daß sie ihm dienlich wären. Es ist leicht, in einem Kinde den Glauben zu erwecken, daß das, worüber man es unterrichten will, nützlich sei; aber eine solche blos äußerliche Ueberredung ist werthlos, man muß es zu überzeugen verstehen. Vergebens nöthigt uns die ruhige Vernunft Beifall oder Tadel ab, zum Handeln treibt uns erst die Leidenschaft; und wie kann man für Dinge, für welche noch kein Interesse in uns erwacht ist, in Leidenschaft gerathen?
Lenket die Aufmerksamkeit des Kindes nie auf etwas, was es nicht einzusehen vermag. So lange ihm die Menschheit noch beinahe völlig fremd ist, könnt ihr es nicht auf den Standpunkt des Mannes erheben und deshalb müßt ihr ihm zu Liebe den Mann auf den Standpunkt der Kindheit stellen. Obwol ihr das, was ihm in einem späteren Alter nützlich sein kann, nicht aus den Augen lassen dürft, so redet dennoch mit ihm nur von dem, dessen Nutzen es schon jetzt einsieht. Uebrigens nie Vergleichungen mit anderen Kindern, keine Rivalen, keine Nebenbuhler, nicht einmal im Laufen, sobald es mit Vernunft zu handeln beginnt! Hundertmal lieber ist es mir, daß es das, was es doch nur aus Eifersucht oder Eitelkeit lernen würde, gar nicht lernt. Ich werde nur alljährlich dieFortschritte andeuten, die es gemacht hat, und sie mit denen des folgenden Jahres vergleichen. Ich werde zu ihm sagen: »Du bist jetzt wieder um so und so viel Linien gewachsen; über diesen Graben konntest du springen, eine so große Last vermochtest du zu tragen, einen Stein so weit zu werfen, eine so große Strecke in einem Athem zu laufen, u.s.w. Laß jetzt aber einmal sehen, was du nun zu leisten im Stande bist.« Auf diese Weise sporne ich es an, ohne seine Eifersucht gegen irgend Jemand zu erregen. Es wird sich selbst übertreffen wollen, und das soll es. Ich vermag keinen Nachtheil darin zu erblicken, daß es sein eigener Nebenbuhler sei.
Ich hasse die Bücher; sie lehren uns nur über Dinge reden, die man nicht versteht. Es wird erzählt, daß Hermes die Elemente der Wissenschaften auf Säulen eingegraben habe, um seine Entdeckungen vor einer neuen Sündflut zu schützen. Wenn er sie jedoch den Köpfen der Menschen richtig eingeprägt hätte, so würden sie sich durch mündliche Überlieferung erhalten haben. Gut vorbereitete Gehirne bilden die Monumente, auf welchen sich die menschlichen Kenntnisse am sichersten eingraben lassen.
Sollte denn kein Mittel vorhanden sein, die große Anzahl der in so vielen Büchern zerstreuten Lehren zusammenzustellen und so zu vereinen, daß sie einem gemeinsamen Zwecke dienen, der leicht kenntlich und interessant zu verfolgen wäre
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