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Emil oder Ueber die Erziehung

Emil oder Ueber die Erziehung

Titel: Emil oder Ueber die Erziehung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Jacques Rousseau
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und selbst dieses Alter anzuspornen vermöchte? Könnte man eine Lage ausfindig machen, in welcher alle natürlichen Bedürfnisse des Menschen in einer auch dem Geiste eines Kindes wahrnehmbaren Weise klar hervorträten, und in welcher sich gleichzeitig die Mittel zur Befriedigung dieser Bedürfnisse nach und nach mit derselben Leichtigkeit entwickelten, so müßte man an einer lebendigen und ungekünstelten Schilderung dieses Zustandes seine Einbildungskraft gleich zuerst zu üben suchen.
    Feuriger Philosoph, ich sehe schon, wie die deinige sich entzündet. Doch gib dir keine vergebliche Mühe! Diese Lage ist schon gefunden, sie ist geschildert und, ohne dir Unrecht zu thun, weit besser, als du selbst sie würdest zu schildern vermögen, wenigstens mit mehr Wahrheit und Einfachheit.Müssen wir denn durchaus einmal Bücher haben, nun, so gibt es eins, welches uns meinem Erachten nach die vorzüglichste Abhandlung über naturgemäße Erziehung an die Hand gibt. Dieses Buch soll mein Emil zuerst lesen; allein soll es lange Zeit hindurch seine ganze Bibliothek bilden und stets einen hervorragenden Platz in derselben behalten. Es wird der Text sein, welchem alle unsere Unterhaltungen über naturwissenschaftliche Stoffe nur als Commentar dienen sollen. Es wird bei unseren Fortschritten den Prüfstein unserer Urtheilskraft abgeben und, so lange unser Geschmack nicht verdorben ist, wird uns seine Lectüre beständig Unterhaltung gewähren. Und wie heißt nun dieses Wunder von Buch? Ist es Aristoteles? Ist es Plinius? Ist es Buffon? Nein, es ist Robinson Crusoe.
    Robinson Crusoe, auf seiner Insel, allein, des Beistandes seiner Mitmenschen beraubt, von allen künstlichen Werkzeugen und Hilfsmitteln entblößt, und trotzdem für seinen Unterhalt und seine Erhaltung sorgend, ja sich sogar eine Art Wohlbefinden verschaffend: das ist sicherlich ein Gegenstand, der jedem Alter Interesse einflößen muß und den man den Kindern durch tausenderlei Mittel anziehend machen kann. Hier finden wir die wüste Insel, auf die ich Anfangs nur gleichnißweise hinwies, verwirklicht. Dieser Zustand ist, wie ich gern einräume, freilich nicht der des gesellschaftlichen Menschen und wird auch wahrscheinlich nicht der Zustand Emils werden, aber derselbe soll ihm als Maßstab zur Beurtheilung aller übrigen dienen. Das sicherste Mittel, sich über Vorurtheile zu erheben und sein Urtheil von den wahren Verhältnissen der Dinge leiten zu lassen, besteht darin, daß man sich an die Stelle eines völlig auf sich allein angewiesenen Menschen versetzt und über Alles so urtheilt, wie dieser Mensch mit Rücksicht auf seinen eigenen Nutzen selbst darüber urtheilen muß.
    Dieser Roman, von allen nebensächlichen Zuthaten befreit, mit Robinson’s Schiffbruche in der Nähe seiner Insel beginnend und mit der Ankunft des Schiffes, welches zu seiner Rettung erscheint, schließend, wird Emil währenddes ganzen Zeitabschnittes, von welchem hier die Rede ist, zugleich Unterhaltung wie Belehrung verschaffen. Ich will, daß ihm der Kopf darüber schwindele, daß er sich unaufhörlich mit seinem Schlosse, seinen Ziegen und Pflanzungen beschäftige; daß er, nicht aus Büchern, sondern an den Dingen selbst, Alles, was man in einem ähnlichen Falle wissen muß, bis ins Einzelne lerne; daß er sich selbst für einen zweiten Robinson halte, daß er sich in Felle gekleidet, mit einer großen Mütze auf dem Kopfe, einem furchtbaren Säbel an der Seite, kurz in dem ganzen grotesken Aufzuge der Figur erblicke, nur den Sonnenschirm ausgenommen, dessen er nicht bedürfen wird. Ich will, daß er sich über die Maßregeln, welche etwa ergriffen werden könnten, wenn sich dieser oder jener Mangel bei ihm einstellte, beunruhige, daß er das Verfahren seines Helden prüfe und untersuche, ob derselbe nichts unterlassen habe und ob er nichts hätte besser machen können; daß er seine Fehler genau bemerke und sich dieselben zu nutze mache, damit er in einer ähnlichen Lage nicht auch in dieselben verfalle; denn unzweifelhaft wird er sich mit dem Gedanken tragen, einst eine ähnliche Niederlassung zu gründen. Das ist das einzig richtige Luftschloß in diesem glücklichen Alter, in welchem man kein anderes Glück kennt als die Erlangung des durchaus Nothwendigen und die Freiheit.

    Was für eine Hilfsquelle eröffnet diese thörichte Leidenschaft doch einem geschickten Manne, der es verstanden hat, sie nur hervorzurufen, um Nutzen aus ihr zu ziehen! Das Kind, voller Begierde sich ein

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