Emil oder Ueber die Erziehung
Erfahrung und das Gefühl, und der Mensch sieht deshalb auch nur in Bezug auf die Verhältnisse, in denen er sich schon befunden hat, richtig ein, was ihm dienlich und ersprießlich ist. Ein Kind weiß, daß es die Bestimmung hat, ein Mann zu werden; alle Begriffe, die es von dem Stande des Mannes haben kann, geben für dasselbe Gelegenheit zum Unterrichte; aber über diejenigen Begriffe dieses Standes, die über seine Fassungskraft hinausgehen, muß es in völliger Unwissenheit bleiben. Mein ganzes Buch ist nichts als ein fortlaufender Beweis dieses Erziehungsgrundsatzes.
Sobald wir dahin gelangt sind, unserem Zöglinge einen Begriff des Wortes »nützlich« zu geben, gewinnen wir ein nicht zu unterschätzendes Mittel mehr ihn zu leiten, denn dies Wort macht einen starken Eindruck auf ihn, selbstverständlich nur in der Voraussetzung, daß er damit einen seinem Alter entsprechenden Sinn verbindet und die Beziehung desselben auf sein gegenwärtiges Wohlbefinden deutlich einsieht. Auf eure Kinder macht dies Wort dagegen keinen Eindruck, weil ihr es euch nicht habt am Herzen liegen lassen, ihnen davon einen ihrer Fassungskraft angemessenen Begriff beizubringen, und weil sie sich schon aus dem Grunde, daß sich stets Andere damit beschweren, für Alles, was ihnen nützlich ist, zu sorgen, niemals genöthigt sehen, selbst daran zu denken, und folglich gar nicht wissen, was Nutzen ist.
»Wozu nützt das?« Das ist fortan das heilige Wort, das zwischen ihm und mir bei allen Handlungen unseres Lebens allein entscheidende Wort; das ist die Frage, welche meinerseits unfehlbar auf alle seine Fragen folgt, und welche mir zur Abwehr jener Menge alberner und langweilender Fragen dienen soll, mit denen die Kinder unaufhörlich und ganz zwecklos ihre Umgebung ermüden, mehr um über dieselbe eine Art Herrschaft auszuüben, alsum einen wirklichen Nutzen davon zu haben. Derjenige, welchem man als wichtigste Lehre den Grundsatz eingeimpft hat, nichts Anderes als Nützliches wissen zu wollen, fragt wie Sokrates; er stellt keine Frage, ohne sich vorher über den Grund seiner Frage klar zu werden, weil er sehr wohl weiß, daß man ihn, bevor die Antwort erfolgt, darnach fragen wird.
Seht, was für ein mächtiges Werkzeug ich euch damit in die Hände gebe, um einen Einfluß auf euren Zögling auszuüben! Da er von nichts die Gründe kennt, so hängt es fast ganz von eurem Belieben ab, ihn zum Schweigen zu bringen. Welchen Vortheil verleihen euch dagegen eure Kenntnisse und eure Erfahrungen, da sie euch in den Stand setzen, ihm den Nutzen alles dessen, was ihr ihm vorschlagt, nachzuweisen. Das ist aber auch nöthig; denn gebet euch darüber keiner Täuschung hin: dadurch, daß ihr diese Frage an ihn stellt, lehrt ihr ihn auch gleichzeitig, sie seinerseits an euch zu stellen. Mit Sicherheit könnt ihr deshalb darauf rechnen, daß er künftighin, eurem Beispiele folgend, nicht verfehlen wird, bei Allem, was ihr ihm vorschlagt, stets zu fragen: »Wozu nützt das?«
Hierin liegt vielleicht der Fallstrick, welchen der Erzieher am schwersten zu vermeiden vermag. Sucht ihr euch in Beantwortung der Frage des Kindes nur aus der Sache zu ziehen und gebet ihr ihm dabei auch nur einen einzigen Grund an, den es nicht zu begreifen im Stande ist, so wird es, da es ihm nicht entgeht, daß ihr bei eurem Urtheil nur euren und nicht seinen Maßstab anlegt, sich auch dem Glauben hingeben, daß das, was ihr ihm sagt, zwar für euer Alter, aber nicht für das seinige gut sei; es wird euch kein Vertrauen mehr schenken, und damit ist Alles verloren. Aber wo ist der Lehrer, der die Antwort schuldig bleiben und seinem Zöglinge sein Unrecht eingestehen möchte? Alle machen es sich zum Gesetze, auch nicht einmal ihre offenbaren Fehler einzugestehen. Ich hingegen würde es mir zum Gesetz machen, mich selbst da, wo ich mich unstreitig im Rechte befinde, eines Irrthums schuldig zu bekennen, sobald ich meinem Zöglinge meine Gründe nicht klar machen könnte. Auf diese Weise würdeihm mein Verhalten, da es vor seinem Geiste beständig fehlerlos dasteht, nie verdächtig sein, und ich würde mir gerade dadurch, daß ich mir Fehler beilege, ein größeres Vertrauen bewahren, als es jenen gelingt, welche die ihrigen verdecken.
Zunächst bedenkt wohl, daß es nur selten eure Aufgabe sein darf, ihm vorzuschlagen, was er lernen soll. Es ist eine Sache, das Verlangen auszusprechen, den Stoff zu suchen und zu finden; eure Pflicht besteht nur darin, denselben seinem
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