Emil oder Ueber die Erziehung
der dem wirklichen Nutzen entspricht, und wenn sie dadurch zu der Einsicht gelangen, daß eine Sache desto mehr kostet, je weniger sie werth ist? In dem nämlichen Augenblicke, wo ihr solche Ideen sich in ihrem Kopfe festsetzen laßt, könnt ihr nur gleich ihre weitere Erziehung aufgeben; wider euren Willen werden sie doch nurwie alle Uebrigen erzogen werden; ihr habt vierzehn Jahre Arbeit verloren.
Emil, der nur darauf sinnt, seine Insel gut auszustatten, wird die Dinge mit anderen Augen ansehen. Robinson würde dem Laden eines Zeugschmiedes einen weit höheren Werth beigemessen haben, als allen Schnurrpfeifereien des Saïde. Ersterer wäre ihm als ein sehr achtbarer Mann, letzterer als ein erbärmlicher Charlatan erschienen.
»Mein Sohn ist bestimmt, einst in der Welt zu leben; er wird sich nicht unter Weisen, sondern unter Thoren zu bewegen haben; er muß folglich ihre Thorheiten kennen, da sie sich nur durch diese leiten lassen. Die wirkliche Kenntniß der Dinge kann unstreitig vortheilhaft sein, aber die Kenntniß der Menschen und ihrer Urtheile hat einen noch ungleich höheren Werth. In der menschlichen Gesellschaft ist der Mensch einmal das wichtigste Werkzeug des Menschen, und der wird der Weiseste sein, welcher sich dieses Werkzeuges am besten zu bedienen versteht. Wozu kann es dienen, die Kinder mit der Idee einer nur imaginären Ordnung der Dinge bekannt zu machen, die der herkömmlichen, in welche sie wirklich eintreten und nach der sie sich richten müssen, völlig entgegengesetzt ist? Zunächst lehrt sie weise sein, und später könnt ihr sie dann auch lehren, sich ein richtiges Urtheil zu bilden, in welchen Punkten die Anderen Thoren sind.«
Das sind die Scheingründe, durch welche sich die Afterweisheit der Väter bestimmen läßt, ihre Kinder zu Sklaven der Vorurtheile, die sie ihnen selber erst einimpfen, und sogar zu Spielbällen der unvernünftigen Menge zu machen, die sie als willenloses Werkzeug ihrer Leidenschaften zu brauchen gedenken. Wie vieles muß man vorher kennen lernen, bis man zur rechten Menschenkenntniß gelangt! Der Mensch ist das letzte Studium des Weisen, und ihr verlangt, es müsse bei Kindern das erste sein! Ehe ihr sie über unsere Empfindungen belehrt, müßt ihr sie befähigen, dieselben recht zu würdigen. Heißt das etwa eine Thorheit kennen, wenn man sie für Vernunft hält? Um weise zu sein, muß man es von dem zu unterscheiden vermögen,was es nicht ist. Wie soll denn euer Kind die Menschen kennen, wenn es weder ihre Meinungen zu beurtheilen noch ihre Irrthümer zu erkennen versteht? Es ist ein Unglück, die Gedanken der Menschen zu kennen, wenn man nicht weiß, ob diese Gedanken richtig oder falsch sind. Lehrt es deshalb zuerst, was die Dinge an sich sind; später könnt ihr es dann auch damit bekannt machen, was sie in unsern Augen sind. Nur auf diese Weise wird ihm ein Vergleich zwischen vorgefaßter Meinung und Wahrheit möglich sein, und wird es sich über den großen Haufen erheben können; denn sobald man die Vorurtheile annimmt, kennt man sie eben nicht, und leitet das Volk nicht, wenn man ihm gleicht. Beginnt ihr indeß damit, es über die öffentliche Meinung zu unterrichten, ehe ihr es angehalten habt, sie zu würdigen, so könnt ihr euch versichert halten, daß es dieselbe, was ihr auch immer dagegen thun mögt, annehmen wird, und daß ihr sie nie wieder werdet ausrotten können. Ich ziehe daraus den Schluß, daß man, um einen jungen Mann verständig zu machen, sein Urtheil bilden muß, anstatt ihm das unserige aufzudrängen.
Ihr seht, daß ich mit meinem Zöglinge bis jetzt noch nicht über die Menschen geredet habe; er hätte zu viel gesunde Vernunft besessen, um mich verstehen zu können. Seine Beziehungen zu seiner Gattung sind ihm noch nicht wahrnehmbar genug, um im Stande zu sein, Andere nach sich selbst zu beurtheilen. Außer sich kennt er noch kein menschliches Wesen; ja er ist sogar noch weit davon entfernt, sich selbst zu kennen. Wenn er aber auch nur wenige Urtheile über seine Person fällt, so sind dieselben dafür wenigstens immer richtig. Es ist ihm unbekannt, welche Stellung Andere einnehmen, aber seine eigene kennt und behauptet er. Nicht durch die socialen Gesetze, die er nicht kennen kann, haben wir ihn eingeschränkt, sondern durch die Fesseln der Notwendigkeit. Er ist bis jetzt fast nur noch ein physisches Wesen; wir wollen fortfahren, ihn als ein solches zu behandeln.
Emil soll alle Naturkörper und alle Arbeiten der Menschen nach
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