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Emil oder Ueber die Erziehung

Emil oder Ueber die Erziehung

Titel: Emil oder Ueber die Erziehung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Jacques Rousseau
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Vorstellung von seinem eigenen Verdienst, die sich dadurch in diesem armseligen Menschen festsetzt. Wie der König Midas sieht er Alles, was er berührt, sich in Gold verwandeln, aber er gewahrt die langen Ohren nicht, die ihm dabei wachsen. Um dafür zu sorgen, daß sie unserm Emil hübsch kurz bleiben, laßt uns seine Hände vor diesem Talente, welches so reiche Schätze abwirft, bewahren. Der Preis seiner Arbeiten soll nicht in Rücksicht auf die Person des Verfertigers, sondern auf die Güte des Werks bestimmt werden. Wir wollen niemals dulden, daß man an das seinige einen anderen Maßstab lege als an die Arbeiten bewährter Meister. Um ihrer selbst willen soll seine Arbeit geschätzt werden, und nicht deswegen, weil sie von ihm herrührt. Hat er etwas gut gemacht, so saget dreist: »Das ist eine gute Arbeit«, setzet aber nie hinzu: »Wer hat sie gemacht?« Sagt er etwa selbst mit stolzer und selbstzufriedener Miene: »Ich habe sie angefertigt«, so füget kalt hinzu: »Ob du oder ein Anderer, das ist gleichgiltig, es bleibt immer eine gute Arbeit.«
    Gute Mutter, schütze dich namentlich gegen die Lügen, die man für dich in Bereitschaft hält. Ist dein Sohn kenntnißreich, so mißtraue Allem, was er weiß. Hat er das Unglück, in Paris erzogen zu werden und außerdem noch Reichthümer zu besitzen, so ist er verloren. So viele geschickte Künstler es daselbst auch geben mag, so wird er doch alle ihre Talente besitzen; fern von ihnen werden sie indeß plötzlich versiegen. Diese Hauptstadt wimmelt von Dilettanten und besonders von Dilettantinnen, die ihreWerke anfertigen, wie Guillaume seine Farben erfand. Unter den Männern sind mir nur drei rühmliche Ausnahmen bekannt, obwol es deren auch noch mehr geben kann, unter den Frauen jedoch kenne ich keine einzige, hege auch Zweifel, daß es eine gibt. Im Allgemeinen erwirbt man sich einen Namen in den Künsten in derselben Weise wie in der gelehrten Welt. Man wird Künstler und Kunstrichter, wie man Doctor der Rechte und Bürgermeister wird.
    Würde man es also einmal als einen unanfechtbaren Satz gelten lassen, daß es schön sei; ein Handwerk zu verstehen, so würden eure Kinder gar bald ein solches betreiben, ohne es je gelernt zu haben. Sie würden es zum Meister bringen, wie man es in Zürich zum Rathsherrn bringt. Mit all diesen äußeren Rücksichten soll mein Emil verschont bleiben; kein Schein, immer nur Thatsachen! Man rede nicht von dem, was er weiß, sondern laß ihn im Stillen lernen. Er mache fortwährend sein Meisterwerk und erhalte doch nicht die Meisterwürde; nicht durch den Titel, sondern durch die Arbeit zeige er, daß er ein Arbeiter ist.
    Bin ich im Stande gewesen, mich bis hierher verständlich zu machen, so muß man eingesehen haben, wie ich meinem Zöglinge neben der Gewöhnung an körperliche Uebung und Handarbeit unmerklich zugleich Geschmack an Ueberlegung und Nachdenken einflöße, um in ihm der Trägheit, in die er in Folge seiner Gleichartigkeit gegen die Urtheile der Menschen und der noch ungestörten Ruhe seiner Leidenschaften verfallen könnte, ein Gegengewicht zu geben. Er muß arbeiten wie ein Bauer und denken wie ein Philosoph, damit er nicht das müßige Leben eines Wilden führe. Das große Geheimniß der Erziehung beruht darauf, daß man es so einzurichten versteht, daß sich die körperlichen und geistigen Uebungen stets gegenseitig zur Erholung dienen.
    Hüten wir uns jedoch, solche Belehrung, welche einen reiferen Verstand voraussetzt, zu früh zu ertheilen. Emil wird noch nicht lange Handwerker sein, so wird ihm auch schon die Ungleichheit der Stände auffallen, die er Anfangs kaum bemerkt hatte. Nach den Grundsätzen, dieich ihm nach Maßgabe seiner Fassungskraft eingepflanzt habe, wird er auch mich einer Prüfung unterwerfen wollen. Da er Alles ausschließlich von mir erhält und in seiner Lage eine Aehnlichkeit mit der der Armen erblickt, so wird er wissen wollen, weshalb sich die meinige so wesentlich davon unterscheidet. Ganz unversehens wird er vielleicht recht verfängliche Fragen an mich richten. »Sie sind reich, Sie haben es mir selbst gesagt, und ich nehme es auch wahr. Ein Reicher muß, weil er Mensch ist, ebenfalls für die Gesellschaft arbeiten. Aber was thun Sie denn für dieselbe?« Was würde wol einer unserer jetzigen so beliebten Erzieher darauf antworten? Ich weiß es nicht. Vielleicht würde er die Thorheit so weit treiben, das Kind auf die Sorgfalt hinzuweisen, die er ihm widmet. Was mich jedoch

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