Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Emil oder Ueber die Erziehung

Emil oder Ueber die Erziehung

Titel: Emil oder Ueber die Erziehung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Jacques Rousseau
Vom Netzwerk:
anlangt, so reißt mich die Werkstätte aus der Verlegenheit. »Ei, lieber Emil, das ist eine vortreffliche Frage, ich verspreche dir, daß du eine Antwort von mir erhalten sollst, sobald du selbst eine dir genügende gefunden hast. Inzwischen werde ich es mir angelegen sein lassen, dir und den Armen Alles, was ich zu viel habe, zu geben und wöchentlich einen Tisch oder eine Bank zu machen, um für das Ganze nicht völlig nutzlos zu sein.«
    Damit sind wir nun wieder auf uns selbst zurückgekommen. Unser Kind ist, noch unmittelbar vor dem Augenblicke, wo es aus der Kindheit heraustreten soll, zu seiner eigenen Person zurückgekehrt. Mehr als je fühlt es die Nothwendigkeit, mit welcher es an die Dinge gefesselt ist. Nachdem wir zuerst seinen Körper und seine Sinne geübt haben, sind wir zur Uebung seines Verstandes und seiner Urtheilskraft übergegangen. Schließlich haben wir den Gebrauch seiner Glieder mit dem seiner Geisteskräfte verbunden. Wir haben ein handelndes und denkendes Wesen aus ihm gebildet. Zur Vollendung des Menschen bleibt uns nur noch übrig, auch ein liebendes und fühlendes Wesen aus ihm zu machen, das heißt seine Vernunft durch das Gefühl zu vervollkommnen. Bevor wir jedoch in diese neue Lebensperiode eintreten, wollen wir noch einen Rückblick auf diejenige werfen, aus der wir jetzt scheiden, unduns darüber möglichst klar zu werden suchen, wohin wir gelangt sind.
    Anfangs hatte unser Zögling nur sinnliche Wahrnehmungen; jetzt hat er Begriffe; zuerst nahm er nur wahr, jetzt urtheilt er. Denn aus der Vergleichung mehrerer auf einander folgender oder gleichzeitiger Wahrnehmungen und aus dem Urtheile, welches man sich darüber bildet, geht eine Art gemischter oder zusammengesetzter Wahrnehmung hervor, welche ich Idee oder Begriff nenne.
    Die Art und Weise der Bildung der Begriffe verleiht nun dem menschlichen Geiste seinen besonderen Charakter. Derjenige Geist, welcher seine Ideen lediglich nach wirklichen Verhältnissen bildet, ist ein gründlicher Geist, während derjenige, welcher sich schon mit scheinbaren Verhältnissen befriedigt, ein oberflächlicher Geist ist; wer die Verhältnisse so auffaßt, wie sie sind, ist ein klarer, und wer sie unrichtig auffaßt, ein unklarer Kopf; wer eingebildete Verhältnisse, die weder in der Wirklichkeit existiren noch eine Wahrscheinlichkeit für sich haben, erdichtet, ist ein Narr, und wer gar seine Vergleichungen anstellt, ein Schwachkopf. Das größere oder geringere Geschick in der Vergleichung der Ideen und im Auffinden der Verhältnisse bildet Menschen von höherem oder niedrigerem Geiste.
    Die einfachen Begriffe sind weiter nichts als verglichene Sinneswahrnehmungen. Bei den einfachen Sinneswahrnehmungen kommen eben so gut Urtheile vor, als bei den zusammengesetzten, welche ich einfache Begriffe nenne. Bei den Sinneswahrnehmungen tritt das Urtheil rein passiv auf; es beschränkt sich auf die Bestätigung, daß man das, was man wahrnimmt, wirklich wahrnimmt. Bei dem Begriffe oder der Idee verhält sich das Urtheil dagegen activ; es stellt zusammen, es vergleicht, es bestimmt Verhältnisse, welche der Sinn nicht bestimmt. Darin besteht der ganze Unterschied, aber er ist freilich groß. Die Natur täuscht uns nie, die Täuschung geht stets von uns selber aus. [17]
    Ich bin Zeuge, wie man einem achtjährigen Kinde Gefrorenes vorsetzt; es führt den Löffel nach dem Munde, ohne zu wissen, was man ihm gereicht hat, und von der Kälte empfindlich berührt, schreit es: »Ach, ich habe mich verbrannt!« Es wird ein sehr lebhafter Eindruck auf dasselbe ausgeübt; und da es keinen lebhafteren als den durch die Hitze des Feuers verursachten kennt, so meint es, diese zu empfinden. Dessenungeachtet täuscht es sich; der plötzliche Kälteschauer erregt ihm Schrecken; aber es verbrennt sich nicht. Außerdem haben auch beide Empfindungen keine Aehnlichkeit mit einander, denn wer beide schon wahrgenommen hat, wird sie gewiß nicht mit einander verwechseln. Nicht also die Empfindung hat die Täuschung hervorgerufen, sondern das Urtheil, welches das Kind über dieselbe fällt.
    Eine ähnliche Erfahrung macht derjenige, welcher zum ersten Male einen Spiegel oder einen optischen Apparat sieht, welcher mitten im Winter oder Sommer in einen tiefen Keller hinabsteigt, welcher seine Hand, wenn sie sehr heiß oder sehr kalt ist, in laues Wasser taucht, oder eine kleine Kugel zwischen zwei gekreuzten Fingern rollt. Begnügt er sich, das, was er wirklich wahrnimmt,

Weitere Kostenlose Bücher