Emil oder Ueber die Erziehung
ist uns auch Alles wichtig; mit unseren Bedürfnissen muß sich auchnothwendig unsere Wißbegierde erweitern. Aus dem Grunde schreibe ich den Philosophen eine sehr große und den Wilden gar keine Wißbegierde zu. Letzterer bedarf Niemandes, Ersterer der ganzen Welt und namentlich der Bewunderer.
Man wird mir entgegenhalten, daß ich mich damit von der Natur lossage; aber dies bestreite ich. Die Natur wählt und verwendet ihre Hilfsmittel nicht in planloser Weise, sondern nach dem eintretenden Bedürfnisse. Nun ändern sich aber die Bedürfnisse der Menschen nach ihrer Lebensstellung. Ein großer Unterschied macht sich zwischen einem naturgemäß im Naturzustande und einem naturgemäß in gesellschaftlichen Verhältnissen lebenden Menschen bemerkbar. Emil ist kein Wilder, der seinen Aufenthaltsort in den Wüsten suchen muß; er ist vielmehr ein Wilder, der bestimmt ist, in den Städten zu wohnen. In ihnen muß er seines Lebens Nothdurft und Nahrung zu finden wissen, von ihren Einwohnern muß er Nutzen ziehen und er ist gezwungen, wenn auch nicht wie sie, doch wenigstens mit ihnen zu leben.
Da er nun inmitten so vieler neuer Verhältnisse, zu denen er in eine Art Abhängigkeit gerathen wird, er mag wollen oder nicht, Urtheile fällen muß, so ist es unsere Pflicht, ihn richtig urtheilen zu lehren.
Als die beste Methode, richtig urtheilen zu lernen, kann die empfohlen werden, welche es sich zu ihrer Hauptaufgabe macht, unsere Erfahrungen zu vereinfachen, ja darauf ausgeht, dieselben ganz entbehrlich zu machen, ohne uns einem Irrthume auszusetzen. Daraus folgt, daß wir, nachdem wir längere Zeit hindurch die Eindrücke des einen Sinnes durch einen anderen Sinn berichtigt haben, nun auch noch lernen müssen, die Eindrücke eines jeden Sinnes durch sich selbst zu berichtigen, ohne erst nöthig zu haben, einen anderen Sinn zu Hilfe zu nehmen. Dann wird jeder sinnliche Eindruck für uns zu einem Begriffe werden, und dieser Begriff wird stets mit der Wahrheit in Einklang stehen. Zu dieser Art gehören die Erfahrungen, welche ich dieser dritten Periode des menschlichen Lebens zu verschaffen gesucht habe.
Diese Methode verlangt eine Geduld und Umsicht,deren nur wenige Lehrer fähig sind, ohne welche indeß der Schüler niemals urtheilen lernen wird. Wenn ihr euch z.B., sobald sich derselbe durch den Anschein, als ob der Stock zerbrochen sei, täuschen läßt, sogleich beeilt, denselben aus dem Wasser zu ziehen, um ihn von seinem Irrthume zu überführen, so werdet ihr ihm denselben freilich benehmen, aber was werdet ihr ihn dadurch lehren? Nichts, als was er bald von selbst gelernt haben würde. Das ist wahrlich nicht die richtige Verfahrungsweise! Es handelt sich weniger darum, ihn mit einer Wahrheit bekannt zu machen, als vielmehr ihm zu zeigen, welches Verfahren er einschlagen müsse, um stets die Wahrheit zu finden. Um ihn gründlich zu belehren, muß man ihn nicht so bald aus seinem Irrthume reißen. Nehmt euch an Emil und mir ein Beispiel.
Erstlich wird jedes auf die herkömmliche Weise erzogene Kind nicht verfehlen, auf die zweite der vorausgesetzten beiden Fragen sofort bejahend zu antworten. »Sicherlich,« wird es sagen, »ist das ein zerbrochener Stock.« Ich hege starken Zweifel, daß mir Emil die nämliche Antwort ertheilen wird. Da er die Nothwendigkeit nicht einsieht, gelehrt zu sein oder zu scheinen, so übereilt er sich mit seinem Urtheile nie; er urtheilt nur nach erlangter Gewißheit und ist weit entfernt, sie in dem vorliegendem Falle zu haben, da ihm nur zu wohl bekannt ist, wie leicht wir Gefahr laufen, uns bei unseren Urtheilen zu täuschen, sobald wir uns blos auf den Augenschein verlassen, und wäre es auch nur in Bezug auf die Perspective.
Da er ferner aus Erfahrung weiß, daß auch meine unbedeutendsten Fragen regelmäßig einen ganz bestimmten Zweck haben, wenn ihm derselbe auch nicht sogleich deutlich ist, so liegt es gar nicht in seiner Gewohnheit, ins Gelag hinein zu antworten. Im Gegentheile setzt er Mißtrauen in sich, überlegt reiflich und prüft, bevor er antwortet, meine Fragen mit größter Sorgfalt. Niemals gibt er mir eine Antwort, die ihn nicht selbst befriedigt, und er ist schwer zufrieden zu stellen. Wir ereifern uns am Ende auch Beide nicht so sehr darum, durchaus die Wahrheit wissen zu wollen, sondern es kommt uns weit mehrdarauf an, uns vom Irrthum fern zu halten. Wir würden uns weit unangenehmer berührt fühlen, wenn wir uns mit einem nicht genügenden Grunde zufrieden
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